Sachsenhausen

Gedenken an NS-Zeit: Nachfahren als »Brücke zur Vergangenheit«

Gedenkstätte »KZ Sachsenhausen« Foto: picture alliance / photothek.de

Es muss ein alles erschütterndes Bild gewesen sein, welches sich Soldaten der sowjetischen und polnischen Armee am 22. April 1945 geboten hat. 3000 Menschen, darunter überwiegend Kranke fanden sie noch im Lager Sachsenhausen vor. 300 ehemalige Häftlinge überlebten die Befreiung nicht und starben vor Ort. Mehr als 30.000 hatten die Nazis tags zuvor auf einen Todesmarsch gezwungen, um die Spuren ihrer »Endlösung« zu verwischen.

Zum 80. Mal jährt sich in diesem Jahr die Befreiung von Sachsenhausen. Auch der Großvater von Katrin Grüber, der evangelische Propst Heinrich Grüber (1891-1975), Vertreter der Bekennenden Kirche, wurde zeitweise dort gefangen gehalten. Katrin Grüber, als Grünen-Politikerin einst Vizepräsidentin des Landtags von Nordrhein-Westfalen, ist die Vorsitzende des Fördervereins der Gedenkstätte.

Sie weiß, dass es vielleicht der letzte runde Jahrestag sein wird, an dem Zeitzeugen teilnehmen können. Dieses Jahr hat die Gedenkstätte
30 Überlebende eingeladen, zugesagt haben sechs: drei Frauen und drei Männer, im Alter zwischen 89 und 100 Jahren. Die Überlebenden kommen aus Israel, Polen und der Ukraine - selbst wer noch am Leben ist, kann sich oft nicht mehr die weite Anreise zumuten. Die Zeitzeugen des NS-Terrors waren immer auch etwas wie das Gewissen der Bundesrepublik. Sie haben daran erinnert, dass der millionenfache Mord noch nicht so weit in der Vergangenheit liegt.

Für Grüber liegt nun bei den Nachkommen der Überlebenden eine Chance, diese Erinnerung lebendig zu halten. »Wir haben diesen Bezug - auch wenn wir keine Zeitzeugen sind. Wir sind die Brücke zur Vergangenheit, die für andere sehr weit weg ist.«

Nicht jeder der rund 200.000 Häftlinge in Sachsenhausen hatte Nachfahren - und wenn, muss das nicht heißen, dass diese sich zwangsläufig in der Erinnerungsarbeit einbringen. »Die Familien gehen sehr unterschiedlich damit um«, erklärt Grüber. »Wir haben auch keine Verantwortung für die Erinnerungskultur, sondern das muss jeder selbst entscheiden, ob er oder sie etwas dazu beitragen möchte.«

Übergang von Zeitgeschichte zur Geschichte

Für Astrid Ley, die Leiterin der Gedenkstätte, hat sich die Gedenkarbeit bereits seit längerem verändert. Früher hätten Jugendliche immer jemanden in der Familie gehabt, der die NS-Zeit miterlebt hat. »Wir befinden uns an einem Übergang von Zeitgeschichte zur Geschichte«, sagt sie. Wenn niemand mehr einen persönlichen Bezug dazu habe, gebe das gerade jungen Menschen das Gefühl, dass diese Zeit lange her sei. Umso wichtiger sei es, allgemeine Prinzipien aus der Geschichte abzuleiten. Die Aufgabe der Gedenkstätten sei es, zu zeigen, »wohin das führen kann, wenn man Leute aufgrund zugeschriebener Eigenschaften ausgrenzt.«

Ende März veröffentlichte die Wochenzeitung »Die Zeit« eine repräsentative Umfrage. Der Aussage »80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sollten wir Deutschen einen Schlussstrich unter die Vergangenheit des Nationalsozialismus ziehen«, stimmten 55 Prozent der Befragten zu. 26 Prozent unterstützten die Aussage »voll und ganz«, 29 Prozent stimmten »eher zu«. Ley berichtet aus eigener Erfahrung, dass viele Menschen nach einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen anders dächten: »Ich habe manchmal Leute in den Führungen, die sagen davor: Ich kann damit nichts anfangen, ich weiß nicht, warum ich das erfahren soll. Aber nachdem wir die Führung gemacht haben, sehen sie das völlig anders.«

Sachbeschädigungen, Hakenkreuzschmierereien, rechte Sprüche

Nicht alle kann man von der Notwendigkeit des Gedenkens an die Schrecken der NS-Diktatur überzeugen. In der Gedenkstätte Sachsenhausen hat es im vergangenen Jahr 52 antisemitische, israelfeindliche und rechtsextreme Vorfälle gegeben. Dazu gehörten Sachbeschädigungen, Hakenkreuzschmierereien, rechte Sprüche bei Führungen, Schmäh- und Hassmails.

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Und in Oranienburg, der Stadt, an dessen nordöstlicher Grenze das ehemalige KZ liegt, wurde die AfD bei der Bundestagswahl 2025 mit
32,6 Prozent der Zweitstimmen deutlich stärkste Kraft. »Das macht mich fassungslos, betroffen, zornig«, sagt Grüber. Sie erinnert sich an eine Situation vor einigen Jahren, als AfD-Abgeordnete in Sachsenhausen einen Kranz niederlegten. »Ich bin hingegangen und habe
gesagt: Mein Großvater hätte das nicht gut gefunden.«

Bei der vergangenen Landtagswahl in Brandenburg hat die SPD knapp vor der AfD die meisten Stimmen bekommen. Was, wenn eines Tages die Partei in dem Bundesland mitregieren sollte, deren Vertreter beim Holocaust-Denkmal an ein »Mahnmal der Schande« denken? »Ich mag mir das gar nicht vorstellen. Und ich werde meinen Teil dafür tun, dass das nicht passiert«, sagt Grüber. Schon, dass sich der Diskurs nach rechts verschoben habe, erschwere die Gedenkarbeit: »Aber das macht sie noch notwendiger.« epd/ja

Kommentar

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