Gesellschaft

Fundament für Freiheit

Demonstrative Entschlossenheit: Politik und Wirtschaft im Nahen Osten müssen sich radikal ändern. Foto: Reuters

Der Aufstand in Ägypten hat die große Politik offenbar nicht nur überrascht, sondern auch überfordert. Zum Beispiel Barack Obama. Der US-Präsident verlangte zunächst die Abdankung des alten Verbündeten Hosni Mubarak. Dann wünschte sich der Chef des Weißen Hauses einen »geordneten Übergang« am Nil.

Der EU hatte es erst einmal die Sprache verschlagen, später wartete Europa mit knieweichen Statements auf. Schließlich forderte die Gemeinschaft einen Reformprozess in Richtung Demokratie, bei dem selbstverständlich alle Kräfte respektiert würden. In Israel wiederum bekam man es angesichts der Wucht der Demonstrationen mit der Angst zu tun.

Während der Proteste in der arabischen Welt zeichnete die diplomatische Welt vor allem eines aus: geballte Hilflosigkeit – mit Ausnahme des Iran, dessen Regime den Aufstand sofort als weiteres Zeichen für den unaufhaltsamen Sieg des politischen Islam verbuchte. Und zahlreicher »Experten«, die ja schon immer gewusst haben, dass es »so nicht weitergehen konnte«.

Reformen Mit gewichtigem Ton verkündeten sie folglich allseits bekannte Weisheiten: Dass es in Ägypten wie den meisten anderen arabischen Ländern zu viele unzufriedene junge Männer gäbe, der Staatsapparat korrupt sei, die Muslimbrüder in Ägypten zwar die am besten organisierte Oppositionsgruppe darstellten, aber nicht beabsichtigten, einen islamistischen Staat zu errichten. Und überhaupt brauche es jetzt Reformen.

Ach ja? Will man in Ägypten die jetzige Arbeitslosenquote halten (wohlgemerkt: nur halten), die im Durchschnitt bei knapp 12 Prozent, unter Jugendlichen aber bei 26 Prozent liegt, dann müsste man bis zum Jahr 2015 laut UN mehr als 14 Millionen neue Jobs schaffen. Und damit steht Ägypten noch vergleichsweise gut da. Jordanien hat eine Arbeitslosenrate unter Jugendlichen von 39, Algerien sogar von 45 Prozent. Aber wie soll ein solches Jobwunder vollbracht werden, wenn nicht die Privatwirtschaft, sondern der Staat die Jobs schafft?

Ein Drittel der Beschäftigten in Ägypten sind Staatsdiener, sie leben von Steuereinnahmen, Zuwendungen des Auslands oder dem Bakschisch der Mitbürger. 44 Prozent sind im sogenannten Service-Bereich tätig. Nur knapp ein Fünftel der Menschen stellt tatsächlich etwas her, das sich vielleicht exportieren ließe. Hat irgendjemand von uns in der letzten Zeit das Label »Made in Egypt« gesehen?

Analphabeten Um international wettbewerbsfähig zu werden, wäre ein ordentliches Schul- und Ausbildungssystem erforderlich, von dem auch die Ärmsten profitieren könnten. Gibt es das? Weit gefehlt. 39 Prozent der Ägypter sind Analphabeten, während die besser ausgebildete Elite zwar Universitätsdiplome aufweisen kann, aber den Anschluss an die Weltspitze in Wissenschaft und Technik verloren hat.

Und wie steht es mit der viel gerühmten »Facebook-Generation«, deren Vertreter gerne als westlich orientierte Demokraten eingemeindet werden? Schauen wir doch mal, was Frauen und Männern mit großem Abstand am wichtigsten ist: Familie (97 Prozent) und Religion (96 Prozent). Zuerst einmal heißt das nur, dass wir es mit einer sehr traditionellen Gesellschaft zu tun haben, die sich nicht zwingend die Muslimbrüder an die Macht wünschen muss (die keine Ahnung haben, wie man eine Wirtschaftspolitik betreibt und Arbeitslosigkeit bekämpft).

Aber uns sollte zu denken geben, dass 82 Prozent der Ägypter laut einer Studie des »Pew Research Center« aus dem Jahr 2010 eine Steinigung für Ehebrecher befürworten und 86 Prozent das Todesurteil bei Menschen für angebracht halten, die »sich vom Islam abwenden«.

Respekt Ohne Frage: Jenen, die in Kairos Straßen demonstriert haben, die sich von Schlägerbanden verprügeln ließen und sich ein Ende der Misere wünschen, gebührt Respekt. Und ein Wort der Anerkennung hätte man sich durchaus aus Israel gewünscht, der einzigen wirklichen Demokratie und erfolgreichen Wirtschaftsnation des Nahen und Mittleren Ostens.

Klar ist aber auch: Der Ruf nach »Reformen« darf als beispiellose Untertreibung bezeichnet werden. Ägypten, ja, die meisten arabischen Länder brauchen keinen neuen Anstrich, sondern ein völlig neues Fundament. Eine Gesellschaft, die ihren Frust nicht mehr an den »zionistischen Übeltätern« abarbeitet, sondern mit größtem Mut ihre eigenen Probleme angeht.

Was man für diesen gigantischen Übergang braucht? Vorsicht. Aber sicherlich keine Angst. Einen unerschrockenen Blick, doch keine Plattitüden von Möchtegern-Experten. Entschlossenheit statt knieweicher Statements. Dazu Geld für Investitionen und viel Geduld. Vor allem bedarf es eines klaren, realistischen Ziels: Ägypten als eine vielleicht sehr traditionelle, aber doch pluralistische Demokratie.

Die Autorin ist Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik. Soeben erschien von ihr: »Freya von Moltke. Ein Leben. Ein Jahrhundert«, Rowohlt, Berlin 2011, 221 S., 19,95 €

Justiz

Gericht bestätigt Verbot der Parole »From the river to the sea«

Ein von der Stadt Bremen erlassenes Verbot sei rechtmäßig, entschied nun das Verwaltungsgericht Bremen

 07.12.2025

Yad Vashem

Merz: »Wir werden die Erinnerung lebendig halten«

Es ist einer der wichtigsten Antrittsbesuche für Kanzler Merz. Der zweite Tag in Israel beginnt für ihn mit dem Besuch eines besonderen Ortes

 07.12.2025

Umfrage

KAS-Studie: Antisemitische Vorurteile nehmen bei Türkeistämmigen zu

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat eine neue Studie zum Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft vorgelegt. Dabei wurden auch Einstellungen zu Juden abgefragt

 07.12.2025

Simi Valley

»Vorbildliche Verbündete«: Hegseth nennt Israel und Deutschland

Die Signale, die jüngst aus den USA in Richtung Europa drangen, waren alles andere als positiv. Der US-Verteidigungsminister findet nun allerdings nicht nur Lob für den jüdischen Staat, sondern auch für einige EU-Staaten

 07.12.2025

Soziale Medien

Musk nach Millionenstrafe gegen X: EU abschaffen

Beim Kurznachrichtendienst X fehlt es an Transparenz, befand die EU-Kommission - und verhängte eine Strafe gegen das Unternehmen von Elon Musk. Der reagiert auf seine Weise

 07.12.2025

Jerusalem

Merz: Deutschland wird immer an der Seite Israels stehen

Der Bundeskanzler bekräftigt bei seiner Israel-Reise die enge Partnerschaft. Am Sonntag besucht er die Schoa-Gedenkstätte Yad Vashem und trifft Premierminister Benjamin Netanjahu

von Sara Lemel  07.12.2025 Aktualisiert

Diplomatie

»Dem Terror der Hamas endgültig die Grundlage entziehen«

Es ist eine seiner bisher wichtigsten Auslandsreisen, aber auch eine der schwierigsten. Kanzler Merz ist für zwei Tage im Nahen Osten unterwegs

 06.12.2025

Jerusalem

Merz trifft Netanjahu und besucht Holocaust-Gedenkstätte

Es ist einer der wichtigsten Antrittsbesuche von Kanzler Merz - aber auch einer der schwierigsten. In den Beziehungen zu Israel gab es in den letzten Monaten einige Turbulenzen

von Michael Fischer  06.12.2025

Akaba/Jerusalem

Merz zu Nahost-Reise aufgebrochen: Antrittsbesuch in Israel 

Das Renten-Drama ist überstanden, jetzt geht es für den Kanzler erstmal ins Ausland. Heute und morgen steht ein besonderer Antrittsbesuch auf seinem Programm

 06.12.2025