Pessach

Flucht und Freiheit

Erew Pessach: Der Abend hat eine ganz bestimmte Ordnung (hebr.: Seder) und läuft in einer festgelegten Reihenfolge ab. Foto: Flash 90

An diesem Freitag ist Erew Pessach, und – Hand aufs Herz – die Vorbereitungen waren wieder etwas anstrengend, oder? Das Haus oder die Wohnung reinigen, Chametz beseitigen, Mazze abholen, Pessachgeschirr auspacken, für den Seder einkaufen, die Familie pünktlich versammeln.

So ähnlich geht es in vielen Familien in den Tagen vor Pessach zu. Die Liste der zu erledigenden Dinge ist lang. Und meistens – seien wir ehrlich – sind die Frauen oder Mütter am meisten im Stress. Dieses Jahr ist die Organisation eine besondere Herausforderung, weil Erew Pessach auf einen Freitag fällt. Doch beim Seder ist all das vergessen. Ob in der Gemeinde, im Freundeskreis oder zu Hause – wir sitzen, feiern, lesen die Haggada und freuen uns, zusammen zu sein.

sicherheit Sklaverei, der Auszug aus Ägypten, wiedergewonnene Freiheit – das alles erscheint eigentlich sehr weit weg. Wir sprechen und hören die alten Texte und genießen unbeschwert die Speisen. Denn wir leben in Freiheit und Sicherheit, sozial abgefedert, in einer Wohlstandsgesellschaft – warum also nicht unbeschwert feiern?

Pessach währt eine gute Woche. Das bietet uns genug Gelegenheit, die jahrtausendealte Geschichte auch einmal zu reflektieren. Hätte die Überlieferung so lange funktioniert, wenn es nur um das gemeinsame Essen gegangen wäre? Mit Sicherheit nicht! Das Wissen um unsere Herkunft und Geschichte ist ein entscheidender Schlüssel für unseren Zusammenhalt und unsere Identität. Und ebenso ist unsere Religion Kompass für Gegenwart und Zukunft.

Immer wieder stellen wir fest, wie aktuell die Geschichte von Pessach ist. Freiheit und Sicherheit sind auch heute für viele Menschen auf der Welt unerfüllte Ideale. Sie fliehen aus Diktaturen, vor Verfolgung und vor Krieg. Rund 60 Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Nie zuvor waren es so viele.

flüchtlingslager Die riesigen Flüchtlingslager, die so groß wie Städte sind, sind in der Regel weit von Deutschland entfernt, in Afrika oder im Nahen Osten. Doch im vergangenen Jahr rückte die Problematik plötzlich ganz nahe, bis in unseren Alltag.

Rund eine Million Flüchtlinge kamen 2015 nach Deutschland. Wir alle spürten, dass schon diese Zahl – ein Bruchteil angesichts von 60 Millionen Flüchtlingen – unseren Staat und die Zivilgesellschaft an den Rand des Machbaren brachte. Und obwohl die Flüchtlingszahlen in diesem Jahr bereits deutlich zurückgegangen sind, waren im März bei den Wahlen die politischen Verwerfungen, die durch die Flüchtlingskrise ausgelöst wurden, deutlich an den Wahlergebnissen abzulesen. In Hessen reüssierte die NPD in einigen Kommunen. Die AfD sitzt in drei weiteren Landtagen.

Doch jetzt, da die Zahl der Menschen, die in unser Land kommen, kleiner wird, dürfen wir einen Fehler auf keinen Fall machen: zu denken, nun löse sich alles von selbst in Wohlgefallen auf. Die Flüchtlinge sind ja nicht verschwunden. Jene, die nach Europa wollten, sitzen jetzt in Griechenland oder der Türkei fest. Auch sie brauchen weiterhin Hilfe. Es ist an uns, nicht wegzuschauen, sondern zu helfen. Hilfe für Arme, für Bedürftige, für Verfolgte ist eine Mizwa.

unterstützung Ebenso brauchen die Flüchtlinge, die jetzt in unserem Land leben, weiterhin unsere Unterstützung. Aus der Erfahrung der 90er-Jahre mit unseren damals neuen Gemeindemitgliedern aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wissen wir: Je schneller die Neuankömmlinge Deutsch lernen und eine Arbeit finden, desto besser.

Den jüdischen Zuwanderern wurden in den 90er-Jahren häufig viele Steine in den Weg gelegt. Ihre Berufsabschlüsse wurden nicht anerkannt. Sie mussten Jobs annehmen, für die sie eigentlich völlig überqualifiziert waren. Inzwischen hat sich die gesetzliche Lage etwas verbessert. Für jene Flüchtlinge, die qualifiziert sind, sollten sich auch heute unbürokratische Wege in den deutschen Arbeitsmarkt finden. Sie verdrängen dort niemanden. Deutschland sucht in vielen Branchen dringend Fachkräfte.

Wir möchten, dass die, die Asyl erhalten, Bürger dieses Landes werden. Das bedeutet jedoch mehr, als sich einigermaßen verständigen und Geld verdienen zu können. Es bedeutet, unsere Wertvorstellungen und unsere Kultur anzuerkennen, die »kulturelle Erbschaft« Deutschlands nicht auszuschlagen, wie Bundespräsident Joachim Gauck es ausgedrückt hat. Er hat gesagt: »Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.«

werte Null Toleranz für Antisemitismus, die Erinnerung an die Schoa, das Anerkennen der deutschen Verantwortung und eine unverbrüchliche Solidarität zu Israel – das sind für uns die zentralen Werte, die jeder Bürger in Deutschland verinnerlichen muss, egal, welcher Herkunft und Religion.

Wenn die hohe Zahl an Flüchtlingen auch dazu führt, dass sich die gesamte Gesellschaft wieder stärker zu diesen Werten bekennt – dann haben wir alle etwas gewonnen! Ich wünsche Ihnen, Ihren Familien und Freunden, der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland sowie allen Juden weltweit ein frohes Pessachfest! Pessach Kascher we-Sameach!

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Hamburg

So reagiert die Politik auf den Rücktritt Stefan Hensels

Wegen der vorzeitigen Amtsaufgabe des Antisemitismusbeauftragten macht die CDU dem rot-grünen Senat schwere Vorwürfe. Der Erste Bürgermeister lobt dagegen die konstruktive Zusammenarbeit mit dem Beauftragten

von Joshua Schultheis  01.12.2025

Verteidigung

Deutschland stellt Arrow 3 in Dienst

Erstmals kommt das Raketenabwehrsystem außerhalb Israels zum Einsatz

 01.12.2025

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Deutschland

Massive Proteste gegen neuen AfD-Nachwuchs 

Die AfD organisiert ihren Nachwuchs - Gießen erlebt den Ausnahmezustand. Zehntausende haben sich nach Mittelhessen aufgemacht, um die Gründung der Generation Deutschland zu verhindern

von Christian Schultz  30.11.2025

Rechtsextremismus

Fragezeichen nach skurriler Rede bei AfD-Jugendkongress 

Wer steckt hinter dem mysteriösen Auftritt des Mannes, der mit einer Rede im Hitler-Stil den Gründungskongress der AfD-Jugend aufmischte? Ihm droht der Parteiausschluss

von Jörg Ratzsch  30.11.2025

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Dokumentation

»Sie sind nicht alleine!«

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer hielt bei der Ratsversammlung des Zentralrats der Juden die traditionelle Gastrede

von Wolfram Weimer  30.11.2025

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025