Diplomatie

»Europa ist nicht zu trauen«

Herr Gerstenfeld, Israel fühlt sich durch die neue EU-Richtlinie zur »Territorialklausel« diskriminiert. Warum?
Diese Richtlinie ist ein weiterer Schritt in einem langen Prozess der Diskriminierung Israels durch die Europäische Union. Dieser Prozess hat viele Aspekte. Einer davon ist, dass die EU signalisiert, dass sie im Nahostkonflikt Forderungen nur an die israelische Seite stellt. Gleichzeitig ignoriert Europa die massive Hetze gegen Israel vonseiten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA). Mehr noch, sie finanziert die PA, die vielfach zum Mord an israelischen Zivilisten aufruft und Terror glorifiziert.

Wie sehen diese Hassaufrufe konkret aus?
Die Website »Palestinian Media Watch« dokumentiert seit Jahren systematisch diese Hetze. Es gibt inzwischen so viele Hassaufrufe, dass die Website sie in Kategorien unterteilt wie »Tiervergleiche«, »Juden und Israelis sind bösartig«, »Juden und Israelis sind Krebsgeschwüre«, »Juden und Israelis sind eine Gefahr für die Menschheit« und so weiter. Das wird teilweise finanziert mit EU-Fördermitteln. Und nicht nur das: In verschiedenen europäischen nationalen Parlamenten ist – wenn auch ohne Ergebnis – kritisch diskutiert worden, dass die Fördermittel für die PA auch dazu dienen, in Israel einsitzende Massenmörder großzügig finanziell zu unterstützen. Und jetzt diese Richtlinie. Während man Israel Probleme macht, bleibt die EU gleichzeitig weitgehend handlungsunfähig oder -unwillig, was Syrien angeht, wo der UNO zufolge jeden Monat rund 5000 Menschen getötet und noch viel mehr verwundet werden. Wie soll man das anders nennen als diskriminierend?

Wie erklärt sich das angesichts des offiziellen europäischen Nachkriegscredos, nie wieder Antisemitismus zuzulassen?
Es gibt leider keine Psychiater, die Staaten oder übernationale Gebilde analysieren. Die EU wäre ein geeigneter Patient. In einem meiner Bücher spreche ich von »humanitärem Rassismus« als einem wesentlichen Element der europäischen Einstellung gegenüber Israel. Es handelt sich um eine der am wenigsten wahrgenommenen Formen von Rassismus. Definieren kann man sie als verminderte Verantwortungszuweisung für Verbrechen bestimmter ethnischer oder nationaler Gruppen. Humanitäre Rassisten beurteilen Fehlverhalten und Verbrechen unterschiedlich, je nach Hautfarbe und politischer Macht der Handelnden. Für Weiße gelten andere Maßstäbe als für Farbige. Israelis werden oft verdammt, wenn sie Maßnahmen zu ihrer Verteidigung ergreifen. Die palästinensische Verantwortung für Selbstmordattentate, mörderische Raketenangriffe, Glorifizierung von Morden an der Zivilbevölkerung und Aufrufen zur Vernichtung der Juden – wie im Programm der Hamas, die 2006, bei den einzigen freien Wahlen in den Palästinensergebieten, die Mehrheit erhielt – wird häufig kleingeredet und -geschrieben.

Sie haben kürzlich das Buch »Demonizing Israel and the Jews« veröffentlicht. Dort schreiben Sie, dass mindestens 150 Millionen der 400 Millionen EU-Bürger ein, wie Sie schreiben, »dämonisiertes Bild Israels« haben. Wie kommen Sie zu diesen Zahlen?
Die Universität Bielefeld hat für die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Untersuchung in sieben EU-Staaten durchgeführt, die zu dem Ergebnis kam, dass mehr als 40 Prozent aller über 16-Jährigen der Behauptung zustimmen, Israel führe einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser, in anderen Worten: begehe Völkermord. In Deutschland waren es 47 Prozent. Eine frühere Studie derselben Universität Anfang dieses Jahrhunderts beschränkte sich auf Deutschland. Dort lautete die Frage, ob man der Aussage zustimme, dass Israel sich den Palästinensern gegenüber genauso verhält, wie die Nazis einst gegenüber den Juden. 51 Prozent der Befragten stimmten zu. Vergleichbare Studien anderer Forschungseinrichtungen in Norwegen und der Schweiz kommen für diese Länder zu ähnlichen Ergebnissen. Für mich heißt das, dass die Mentalität vieler Europäer heute der weiter Teile der Bevölkerung im Mittelalter ähnelt, die ein vergleichbar irrationales und hasserfülltes Bild des jüdischen Volkes hatten.

Wie ist dieses Bild zustande gekommen?
Wenn man immer wieder Israel verdammt und angreift und weitgehend die enorme politische Kriminalität in vielen Teilen der arabischen und muslimischen Welt ausblendet, wird eine Atmosphäre geschaffen, in der solche absurden Ideen entstehen und – wie die Statistik zeigt – große Verbreitung finden. Die Menschen stellen dann nicht einmal mehr vernünftige Mindestfragen. Zum Beispiel: Wie verträgt sich die dämonisierende Behauptung eines israelischen Genozids an den Palästinensern mit der Tatsache, dass die palästinensische Bevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten sprunghaft zugenommen hat? Ich rede gar nicht davon, dass Palästinenser, vor allem auch Kinder, in israelischen Krankenhäusern behandelt werden, wo das Personal sich aufopfernd um sie kümmert. So etwas wird bewusst nicht wahrgenommen.

Und daran ist die EU schuld?
Zumindest sind in der EU viele in Politik und Zivilgesellschaft daran beteiligt, dieses dämonisierte Bild Israels zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Womit wir wieder bei der »Territorialklausel« wären. Interessant ist für mich, dass es innerhalb der EU kaum Reaktionen gab. Das deutet auf einen zirkulären Prozess: Die EU wirkt mit an der Schaffung einer verbreiteten, sehr negativen Atmosphäre gegenüber Israel und ergreift innerhalb dieses Kontexts weitere diskriminierende Maßnahmen, die wiederum die feindselige Atmosphäre verstärken. Davon abgesehen ist die Richtlinie auch juristisch fragwürdig. Alan Baker, ehemals israelischer Botschafter in Kanada und mein Kollege hier am »Jerusalem Center for Public Affairs«, hat gerade ein Papier dazu veröffentlicht. Erstens sind die europäischen Interpretationen der Grenzen vor 1967 und der Zulässigkeit der Besiedlung völkerrechtlich strittig. Zweitens verstößt die EU mit der Richtlinie gegen ihre Verpflichtungen als Mitunterzeichner der Oslo-Verträge. Dort hat sie sich verpflichtet, Verhandlungen über den endgültigen Status der Territorialfrage, der Grenzen, der Siedlungen, Jerusalems und so weiter nicht zu behindern. Das tut sie aber.

Die Richtlinie kommt ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem die USA versuchen, den Nahostfriedensprozess wieder in Gang zu bringen. Wie wirkt sich die EU-Position auf die Chancen neuer Verhandlungen aus?
Sie bestärkt viele Israelis in ihrer Auffassung, dass weitere Konzessionen an die Palästinenser nicht zum Frieden führen werden und dass, was immer als angeblich endgültige Regelung präsentiert werden wird, den Palästinensern nur dazu dienen wird, die – in ihrer Sicht – erfolgreiche Hetze gegen Israel fortzusetzen. Sprich, sie werden auch nach einer vermeintlichen Einigung mit der Hilfe Europas und anderer Verbündeter weiter Forderungen stellen, so lange, bis Israel von der Landkarte verschwindet. Israels früherer UNO-Botschafter Dore Gold, auch er ein Kollege hier am Center, hat beobachtet, dass auch nach den Oslo-Vereinbarungen 1993 die Europäer weiter für dieselben anti-israelischen Resolutionen in der Generalversammlung stimmten wie zuvor.

In anderen Worten: Sie sagen, dass Israel der EU nicht trauen kann.
Ja, so kann man das sagen. Für Israel käme es in letzter Konsequenz einem Selbstmord gleich, einige der europäischen Positionen im Nahostkonflikt zu akzeptieren.

Die Fragen stellte Michael Wuliger.

Manfred Gerstenfeld ist Aufsichtsrat und ehemaliger Vorsitzender des mit Außenpolitik und Sicherheitsfragen befassten Thinktanks »Jerusalem Center for Public Affairs«. Er wurde 1937 in Wien geboren und wuchs in Amsterdam auf, wo er in Umweltstudien promovierte. 1968 machte er Alija aus Paris, diente in der israelischen Armee, war Generaldirektor einer führenden Beratungsfirma sowie Aufsichtsratsmitglied der »Israel Corporation« und anderer Unternehmen. Gerstenfeld gilt als führender israelischer Europa-Experte und hat zahlreiche Bücher über den Kontinent verfasst. Vor Kurzem ist sein neuestes Buch »Demonizing Israel and the Jews« erschienen (RVP Press, New York 2013, 224 S., 18,95 US-$).

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