Interview

»Ein zweites Afghanistan«

Shimon Briman Foto: pr

Herr Briman, mit dem Zusammenbruch der UdSSR sprach der US-Politologe Francis Fukuyama vor 30 Jahren vom »Ende der Geschichte«. Erleben wir gerade eine Art Renaissance der Sowjetunion?
Das Erbe der Sowjetunion lastete schwer auf Moskau, und Ende des 20. Jahrhunderts spielte es wirtschaftlich und politisch keine zentrale Rolle mehr in der Welt. Als Putin die Macht übernahm, war es das Ziel, Russland wieder ins Zentrum des globalen Schachbretts zu rücken, mit den Waffen des »Wortes« und des »Schwertes.«

Wie meinen Sie das? Schlägt das Imperium jetzt etwa zurück?
Es schlägt schnell und hart zu, wie zum Beispiel in Syrien, Osteuropa und Afrika. Immer wieder überraschte Putin den uneinigen Westen durch taktische, brutale und opportunistische Angriffe. Dadurch wird er gefürchtet, hat aber gleichzeitig Russland international viel Respekt verschafft. In den 90er-Jahren sah der Westen Russland nur noch als eine Art Regionalmacht und breitete sich immer mehr in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes aus. Für Putin ein Verstoß gegen alle Vereinbarungen.

Hat er dem Westen 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz einen neuen Kalten Krieg erklärt?
Da kehrte Russland auf die Weltbühne zurück. Als blockfreie, unabhängige und autonome Macht auf Augenhöhe. Seine Rede missfiel dem Westen, vor allem den USA. Doch richtig ernst genommen wurde er nicht.

Wladimir Putin sagte einmal: »Wer die Sowjetunion nicht vermisst, hat kein Herz, wer sie zurückwünscht, keinen Verstand.« Welche Ziele verfolgt er mit seiner Invasion der Ukraine?
Die Außenpolitik ist seine Stütze, der er sich mit Leib und Seele verschrieben hat. Sie ist sein Werkzeug zum nationalen Zusammenhalt und zum wiedererwachten Nationalstolz. Putin möchte die Ukraine zu einem Satellitenstaat machen und damit eine neue Grenze in Europa schaffen.

Ist der Ukraine-Krieg vergleichbar mit dem Georgien-Konflikt 2008?
Sie weisen gewisse Parallelen auf. Für Putin wirkte die mögliche Aufnahme der Ukraine und Georgien in die NATO wie eine Provokation der USA direkt vor seiner Haustür. Als 2008 in den russischsprachigen Regionen Abchasien und Südossetien im Südkaukasus ethnische Konflikte wiederaufflammten, drangen russische Panzer in diese Gebiete ein und besiegten die georgische Armee in einem Blitzkrieg; die Georgier verloren daraufhin 20 Prozent ihres Staatsgebietes.

Also eine Warnung an seine Nachbarn, die ein militärisches Bündnis mit dem Westen anstreben?
Russland will damit Stärke beweisen, dass es militärische Operationen durchführen kann, wenn seine Interessen – vor allem in den Grenzregionen – bedroht sind. Es ist aber auch eine Botschaft an diese Staaten, dass deren Verbündete nicht eingreifen dürfen.

Was kann die Ukraine in dieser Situation vom krisen- und kriegserfahrenen Israel lernen?
Nachdem die Ukraine vor mehr als 30 Jahren gegründet wurde, kämpft sie jetzt ihren Unabhängigkeitskrieg. Nicht wenige sehen Israel als ein Modell für kleine Länder in einer zunehmend unversöhnlichen Welt. Auch der jüdische Staat stand 1948 alleine da und brauchte Waffen für seine Verteidigung. Die Ukrainer sind fest entschlossen, für ihre Heimat zu kämpfen. Selbst wenn Russland die gesamte Ukraine erobern sollte, wird es für Moskau ein blutiges Erwachen geben: Die Russen werden ihr zweites Afghanistan bekommen. Bei einer Okkupation droht ein grausamer Guerillakrieg. Denn die 44 Millionen Ukrainer wollen nicht von Moskau beherrscht werden. Sie werden Widerstand leisten.

Inwieweit spiegelt sich der Konflikt auch unter Israelis ukrainischer und russischer Herkunft wider?
Nicht so sehr wie vergleichsweise in Deutschland. Nur ganz wenige befürworten die Politik Moskaus. Es überrascht mich, dass vor allem viele russische Einwanderer, die erst in den vergangenen zehn bis 20 Jahren nach Israel kamen, mit ukrainischen Flaggen vor der russischen Botschaft in Tel Aviv gegen den Krieg demonstrieren.

Welche Folgen wird die russische Invasion in der Ukraine für Israel und den Nahen Osten haben?
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Ukraine zu einem wichtigen globalen Akteur auf dem Lebensmittelmarkt entwickelt. Der russische Angriff und seine Seeblockade auf Häfen wie Odessa oder Mariupol könnte einen Tsunami-Effekt auf globaler Ebene auslösen. Dies wird nicht nur Israel treffen, sondern auch Staaten von Nordafrika bis zum Persischen Golf und Südasien. Auch wenn die Konfliktregion einige Tausend Kilometer vom Nahen Osten entfernt ist, wissen dort viele nicht, dass ihr normaler Alltag mit der Ukraine stark verbunden ist. Und wenn viele Israelis glauben, dass der Ukraine-Krieg sie nicht betrifft, dann irren sie sich gewaltig.

Inwiefern?
Ein großer Teil der Mais-Produktion Israels wird durch die Ukraine gedeckt, die mit über 50 Prozent seit mehr als einem Jahrzehnt auch Israels wichtigster Getreidelieferant ist. Überhaupt ist die israelische Milch- und Lebensmittelindustrie stark von Lieferungen aus der Ukraine abhängig.

Was bedeutet das für die israelische Wirtschaft?
Die Ukraine ist Israels wichtigster Subunternehmer für qualifizierte Fachkräfte im Hightech geworden: Fast 45 Prozent ihres »Outsourcings« in diesem Bereich sind in dem vom Krieg gebeutelten Land angesiedelt. Besonders hart aber wird es für die Bauindustrie des jüdischen Staates werden. Die Ukraine liefert pro Jahr Material im Wert von 120 Millionen Dollar. Diese Lieferungen sind für Israels Wasserbauwerke, Industrie- und Militäranlagen, Flug- und Seehäfen, Hochhäuser, Industrieanlagen, Tunnel und Eisenbahnlinien enorm wichtig. Es wird jetzt äußerst schwierig sein, all dies zu ersetzen. Der israelische Bau wird sich verlangsamen, und einige Bauarbeiten werden aufgrund von Materialmangel eingestellt. Über 2000 Bauarbeiter aus der Ukraine können auch nicht mehr nach Israel kommen. Wer Hypothekendarlehen für den Neubau aufgenommen hat, wird länger auf seine Wohnung warten und mehr bezahlen müssen. Der ohnehin schmerzhafte Anstieg der Immobilienpreise wird sich beschleunigen.

Bezüglich des Nahostkonflikts: Hat Putin die »Büchse der Pandora« geöffnet?
Teheran könnte unter dem Deckmantel eines Krieges in Osteuropa den Durchbruch in Richtung Atomwaffen schaffen. Infolgedessen könnte Israel der nuklearen Gefahr allein gegenüberstehen. Am unmittelbarsten sind Auswirkungen auf Syrien, wo es eine langjährige stillschweigende Zusammenarbeit zwischen Jerusalem und Moskau bezüglich israelischer Angriffe auf iranische Waffenlieferungen gibt. Um Ersatz für russisches Gas zu bekommen, könnte sich der Westen auf Katar konzentrieren, ein Staat, der islamischen Terrorismus finanziert. Dies wiederum würde die gemeinsame Anti-Iran-Front der gemäßigten Golfstaaten mit dem jüdischen Staat unter Druck setzen.

Mit dem ukrainisch-israelischen Historiker und Journalisten sprach Tal Leder.

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