Dresden am Abend des 9. November 2020: Mehrere Hundert Pegida-Demonstranten stehen trotz Corona auf dem Altmarkt, schwenken Deutschlandfahnen. Organisator Lutz Bachmann weist die Teilnehmer mehrmals auf die Abstandsregeln hin, ehe er mit seiner Rede beginnt.
»Ihr seid Volksverhetzer«, ruft Bachmann in Richtung von Journalisten, die im Vorfeld darüber berichtet hatten, dass Juden die Rechtsaußen-Veranstaltung am Gedenktag an die Pogromnacht kritisierten.
gleichmacherei »Lügenpresse«-Rufe schallen über den dunklen Platz. Bachmann hetzt in gewohnter Manier gegen die Presse, deren Vertreter er »kleingeistige Maden« und »geistige Brandstifter« nennt. Der Aufmarsch am Gedenktag der Pogromnacht ist für Bachmann kein Problem. Er fordert in bewusster Gleichmacherei, »der Opfer aller totalitären Systeme in der Geschichte« zu gedenken.
Während die städtische Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht in Dresden wegen der Corona-Pandemie nur in kleinem Rahmen stattfindet, tritt bei Pegida als Hauptredner ein Mann auf, der nicht nur eine einschlägige Vita hat. Andreas Kalbitz gilt als wichtiger Einheizer am rechten Rand in Ostdeutschland, er war Kopf des rechtsextremen »Flügels« der AfD. Vor Kurzem flog er wegen seiner Neonazi-Kontakte aus der Partei.
Kalbitz dreht die Kritik an der Pegida-Kundgebung am 9. November einfach um: Der Tag werde »oberflächlich instrumentalisiert« von denen, die »politisch Oppositionelle« leichtfertig »als Nazis diffamieren«. Diese Kritiker würden die Opfer des Holocaust »verächtlich machen«. An diesem Tag denke man auch an das, »was wir an historischer Verantwortung haben – ohne Verantwortung mit Schuld zu verwechseln«.
KRITIK Die Pegida-Demonstration an diesem 82. Jahrestag der Pogrome gegen Juden und der Zerstörung von Synagogen rief überregional Empörung hervor. Sachsens Antisemitismusbeauftragter Thomas Feist kritisiert, dass die Stadt die Kundgebung der Rechten so hinnahm.
Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) verteidigt das Vorgehen: Er finde die Provokation von Pegida »nur schwer erträglich«. »Aber weder das Grundgesetz noch das sächsische Versammlungsgesetz bieten eine Möglichkeit, eine solche Versammlung am 9. November oder einem anderen Tag zu verbieten.«
Kalbitz dreht die Kritik an der Pegida-Kundgebung am 9. November einfach um.
Den Antisemitismusbeauftragten in Sachsen, Thomas Feist, greift der Oberbürgermeister harsch an. Er sei – »bei allem Respekt« vor dessen Arbeit – »schockiert« über Feists öffentliche Äußerungen, die er wohl »ohne genaue Kenntnis des Sachverhaltes und ohne Rücksprache mit der Stadtverwaltung« und dem Innenministerium getätigt habe. Hilbert schreibt an Feist – die E-Mail liegt dieser Zeitung vor –, er wundere sich über »Ihre Haltung zur im Grundgesetz verankerten Versammlungsfreiheit«.
Gegenüber der Jüdischen Allgemeinen legt Hilbert nach: Er habe Feists Äußerungen kritisiert, weil er »in einer Art und Weise Kritik geübt hat, die ich unsachlich und unangemessen finde«. Dresdens Stadtoberhaupt sieht sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Dabei geht es Feist um die Sache: »Antisemitismus geht uns alle an – deswegen wollte ich der Empörung der Jüdischen Gemeinden auch eine öffentliche Stimme geben.«
GEGENWIND Gegenwind bekommt Hilbert derweil auch aus seiner eigenen Partei: »Es gibt Verwaltungsentscheidungen, da kann man nur noch ungläubig und ziemlich fassungslos den Kopf schütteln«, sagt der Antisemitismusbeauftragte der FDP-Bundestagsfraktion, Benjamin Strasser, der Jüdischen Allgemeinen.
Eine Gedenkveranstaltung »auf das kaum wahrnehmbare Minimum zu reduzieren, während die Rechtsextremen bei Pegida demonstrieren, pervertiert unsere Versammlungsfreiheit«, findet der Abgeordnete. »Hier wäre deutlich mehr Sensibilität gefordert gewesen.«
Die Stadt hätte »durchaus etwas tun können«, sagt auch Feist, etwa mit einer eigenen öffentlichen Veranstaltung. Doch so konnte Pegida am Gedenktag an die Pogromnacht ohne Gegenwind aufmarschieren – »ein Signal, das hätte vermieden werden müssen«, meint Feist.
offener brief Scharfe Kritik übt der Gründer des Jüdischen Studentenzentrums Berlin, Mike Samuel Delberg. Er kritisiert das Vorgehen der Stadtverwaltung in einem »Offenen Brief« an Dresdens Oberbürgermeister Dirk Hilbert. Delberg bringt darin »Bestürzung, Wut und Unverständnis« zum Ausdruck. Er fragt, wie es sein könne, dass »Rechtsradikale der Gegenwart ungestört inmitten der Stadt auflaufen und ihre menschenhassende Propaganda verbreiten können«.
In Bezug auf wichtige bundesweite Gedenktage wie den 9. November collten Verwaltungen sensibler agieren.
»Statt still zu werden, wäre es an der Zeit gewesen, laut zu sein«, schreibt Delberg. Die Dresdner Stadtverwaltung habe sich »nicht einmal die Mühe gegeben, diesen wichtigen Gedenktag mit mehr als nur einer Kranzniederlegung mit der jüdischen Gemeinde und den üblichen Phrasen der Solidarität abzuspeisen«.
Dabei hatte sie ihm zufolge frühzeitig »Kenntnis über die geplante rechtsradikale ›Pegida‹-Demonstration« und zugleich gewusst, »dass eine der bedeutsamsten Gedenkveranstaltungen zur Zerstörung jüdischen Lebens in Deutschland aufgrund von Corona in einem kleinen, unscheinbaren Rahmen stattfinden muss«.
AUFLAGEN Ein »fatales Signal« nennt es die Jüdische Gemeinde zu Dresden, dass der rechte Aufmarsch an diesem Datum stattfinden konnte. Die Stadt hatte die Gemeinde im Vorfeld nicht darüber informiert, sagt ihr Vorsitzender Michael Hurshell. Dass zeitgleich zum traditionellen Gedenken eine große Versammlung mit einem rechtsextremen Hauptredner stattfinden konnte, »machte uns fassungslos und empörte uns sehr«, sagen Hurshell und Nora Goldenbogen, die Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden.
Für die Zukunft wünschen sich beide, dass Verwaltungen »in Bezug auf wichtige bundesweite Gedenktage wie den 9. November unbedingt sensibler, vorausschauender und in Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften agieren«.
Das sieht auch Mike Delberg so. »Sich nur auf das Versammlungsrecht zu berufen und seine dahingehende Machtlosigkeit zu unterstreichen, halte ich für zu faul. Man muss solche Demonstrationen nicht im Herzen einer Stadt stattfinden lassen, und man kann mit strengen Auflagen dafür sorgen, dass die Grenzen des Anstands nicht überschritten werden. Am liebsten wäre es mir jedoch, wenn man die rechtlichen Rahmenbedingungen schaffen würde, damit sich ein Vorfall wie in Dresden nicht noch einmal ereignen kann.«