Befreiung des KZ Dachau

»Bestimmtes Milieu will von der Verantwortung für Israel nach der Schoa nichts mehr wissen«

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Foto: picture alliance/dpa

Befreiung des KZ Dachau

»Bestimmtes Milieu will von der Verantwortung für Israel nach der Schoa nichts mehr wissen«

Heute vor 79 Jahren wurde das Konzentrationslager Dachau befreit. Zentralratspräsident Josef Schuster hielt bei der Gedenkveranstaltung eine Rede, die wir hier dokumentieren

von Josef Schuster  05.05.2024 16:11 Uhr

»Obwohl ich fast vor den Füßen der Befreier kollabiert wäre, bin ich vielleicht dieser Junge im Film. Angespornt zu etwas mehr Leben, in dem Wissen, dass ich nun wieder ein Leben haben würde.«

Das sagt Ben Lesser über Filmaufnahmen der Alliierten von der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau. Er glaubt nur zu wissen, sich auf den Aufnahmen zu sehen, so nah waren die Befreiten dem Tod, dass sie sich selbst nicht wiedererkennen können. Ben Lesser hatte die Hölle von Ausschwitz und Buchenwald überlebt, bevor er nach Dachau kam.

Die Fähigkeit, in diesem Moment grenzenloser Leere, einen Schimmer Hoffnung in sich zu erkennen, das beeindruckt mich auch heute noch sehr. Es ist auch die Besinnung auf das Grauen dieser Zeit und die Hoffnung, die folgte, die es uns möglich macht, die Ereignisse in Israel und all das, was das auch für Jüdinnen und Juden in Deutschland bedeutet, zu überstehen.

Meine Damen und Herren, 79 Jahre nachdem dieser Junge, der vermutlich Ben Lesser war, sein Leben zurückerhalten hat, gedenken wir heute den mehr als 40.000 Todesopfern des Konzentrationslagers Dachau und der weiteren tausenden Opfer unzähligen Außenlager sowie den Millionen Opfern der Schoa und der grausamen Nazi-Barbarei.

Ich begrüße Sie herzlich im Namen des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Ganz besonders freue ich mich über das Erscheinen einiger Überlebender dieser Hölle auf Erden.

Wie die meisten von Ihnen wissen, waren auch mein Vater seligen Angedenkens und mein Großvater seligen Angedenkens unter anderem hier in diesem Lager interniert. Sie hatten mehr Glück als so viele andere. Sie wurden zunächst in das KZ Buchenwald gebracht, dann schließlich, ihrem Eigentum beraubt, frei gelassen und konnten Deutschland in Richtung Palästina verlassen, 1938.

Nachdem meine Familie in ihre Heimat nach Franken zurückgekehrt war, war es deswegen, dass ich bereits als kleiner Junge an diesen Veranstaltungen wie der heutigen teilgenommen habe.

Ich habe gespürt, was es für meinen Vater und meinen Großvater bedeutet hat, hier zu sein; auch was es ihnen bedeutet hat, dass ich dabei war.

Ich sage Ihnen ehrlich, ich habe diese Besuche als Junge nicht wahnsinnig gemocht. Aber ich habe gespürt, was es für meinen Vater und meinen Großvater bedeutet hat, hier zu sein; auch was es ihnen bedeutet hat, dass ich dabei war. Mit der Zeit habe ich verstanden, warum sie wollten, dass ich dabei bin und ich bin ihnen dankbar, dass sie mich mitgenommen haben. Ich denke auch heute, in diesem Moment, an die beiden. Ich frage mich, was sie sagen würden.

Was würden Sie sagen, wenn sie wüssten, dass die Verherrlichung von Terror gegen Juden, dass Schoa-Relativierungen und antisemitische Hetze auf deutschen Straßen in gewissen Bereichen fast schon Alltag ist? Was würden Sie dazu sagen, dass sich jüdische Studenten an Hochschulen nicht mehr sicher fühlen?

Eines würden sie sicher nicht: den Glauben verlieren. Es ist dieser stoische Glaube an eine bessere Zukunft und ein friedliches Miteinander, der ausgerechnet diese Menschen auszeichnet, die das Schlimmste erlebt haben, was man sich vorstellen kann.

Auch deswegen ist es so wichtig, dass die Geschichten und Erfahrungen von Zeitzeugen digital eingefangen und für die Bildungsarbeit nutzbar gemacht werden. Die Gedenkstätten, so wie auch hier in Dachau, sind Vorreiter auf diesem Gebiet. Sie leisten eine wertvolle Arbeit und Sie wissen, dass Sie sich der Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft gewiss sein können!

Wer heute in Deutschland glaubt, das Gedenken und Erinnern an die Schoa müsse in einen größeren Rahmen eingebettet werden, der liegt falsch. Die Beschäftigung mit jeder Form von Unrecht, Terror und Gewalt hat seine Berechtigung und Notwendigkeit, aber die Schoa, die industriell geplante Massenvernichtung der europäischen Juden, ist singulär in der deutschen Geschichte. Sie duldet keine Relativierung.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland wird nicht einfach zuschauen, wenn in Berliner Amtsstuben eine grundsätzliche Neuordnung der für unser Land, für Deutschland, so konstitutiven Erinnerungskultur geplant wird. Das versichere ich Ihnen!

Die Ausmaße, die das annimmt, können wir bereits jetzt beobachten: 79 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges skandieren junge Linke angesichts der Solidarisierung der deutschen Politik mit Israel »Free Palestine from German Guilt«. An der Universität der Künste in Berlin werden Lynchmorde an Juden verherrlicht. Israel-Hass ist schon lange kein Privileg arabisch- oder türkischstämmiger Einwanderer mehr.

Wer heute in Deutschland glaubt, das Gedenken und Erinnern an die Schoa müsse in einen größeren Rahmen eingebettet werden, der liegt falsch.

Ein bestimmtes Milieu will von der deutschen Verantwortung für Israel nach der Schoa nichts mehr wissen. Während in linken Milieus die Singularität der Schoa bestritten wird, haben wir uns an die Relativierungen von rechtsextremer Seite fast schon als eine traurige Gewissheit gewöhnt. Dass mit der AfD die Partei, die dieses Denken bis weit in die Mitte der Gesellschaft bringen will, in einzelnen Bundesländern einsam die Wahlumfragen anführt, erhöht aber auch von dieser Seite die Schlagzahl.

Das Erinnern und Gedenken an die Schoa in Deutschland droht im Deutungskampf der Extreme aufgerieben zu werden. Wir werden das nicht zulassen! Wenn dieser bundesdeutsche Konsens fällt, werden wir in einigen Jahren unser Land nicht wiedererkennen.

Meine Damen und Herren, es sind Momente wie diese Gedenkfeier heute, in denen uns glasklar bewusst wird, dass es nicht nur darum geht, das Vergangene zu erinnern, sondern Werte für die Gegenwart und für die Zukunft zu schaffen. Werte, die für einen kleinen Jungen, wie ich es war, der mit seinem Großvater und seinem Vater, die das hier überlebt haben, hier war, kaum greifbar waren; die es aber heute umso mehr sind.

Die Gedenkstätten sind die tragenden Pfeiler der Bildung zu NS-Unrecht. Die Berührung mit Ihnen, selbstverständlich pädagogisch angepasst, kann kaum früh genug beginnen. Sie können dafür sensibilisieren, für ein friedliches gesellschaftliches Miteinander einzutreten und damit auch die demokratische Haltung eines jeden Einzelnen stärken. Uns muss eines klarwerden: Es darf keinen Paradigmenwechsel geben; es darf keine Erinnerungspolitik gegen die KZ-Gedenkstätten geben!

Klar ist dabei natürlich auch: Ein Gedenkstättenbesuch in der Schule allein reicht nicht – nach dem Motto, wir steigen jetzt in den Bus, sind anderthalb Stunden in Dachau und auf dem Rückweg gibt es Burger.

Gedenkstättenbesuche müssen gut vor- und nachbereitet werden; am besten sind mehrtägige Seminare oder auch wiederkehrende Besuche zu verschiedenen Altersstufen. Wir müssen auch die Lehrer in den Blick nehmen und entsprechend ausbilden. Wenn ich mir vorstelle, ich habe einen Geschichtslehrer wie Herrn Höcke, dann Gnade uns Gott. Und wir müssen auf die Gedenkstätten hören, wenn sie sagen, dass es dafür auch genügend Ressourcen braucht.

Meine Damen und Herren, in Deutschland gibt es eine große Tradition an Gedenktagen, ich verfolge diese Veranstaltungen meist von der Besuchertribüne des Bundestages oder wo sie sonst stattfinden mögen. Ich habe dagegen nichts. Im Gegenteil: Mit viel Einfühlsamkeit werden würdige Räume geschaffen und häufig auch der richtige Nerv getroffen. So zum Beispiel bei der Gedenkveranstaltung zum 27. Januar dieses Jahres im Bundestag, die unter dem Thema »generationenübergreifende Aufarbeitung des Holocaust« stand. Doch diese kollektive Erinnerung darf kein Ersatz für die individuelle Auseinandersetzung mit der Geschichte sein.

Das Gedenken und Erinnern darf nicht auf diese Anlässe beschränkt bleiben. Erinnern darf nicht statisch sein und zum Wegschließen von Erfahrungen führen. Gedenken ist kein Formalismus und sollte kein Ritual werden. Der Besuch einer KZ-Gedenkstätte, die Erfahrung biographischer Schicksale, die die Abstraktheit der übergroßen Zahl von 6 Millionen Toten umgehen kann, wappnet genau dagegen. Und deswegen ist es so wichtig, dass wir auf allen Ebenen für den Fortbestand und für die Weiterentwicklung der KZ-Gedenkstätten in einer digitalen und modernen Erinnerungskultur kämpfen!

Im kommenden Jahr wird in vielen KZ-Gedenkstätten dem 80. Jahrestag ihrer Befreiung gedacht werden. Der 8. Mai wird bundesweit ein solches großes Gedenken werden, von dem ich eben sprach. Und wir werden Beteuerungen der Politik hören. Wir werden Schwüre hören auf die wichtige Erinnerung und das unerlässliche Gedenken. Ich verspreche Ihnen, wir werden da sein und die Verantwortlichen daran messen.

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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