documenta

Der Globale Süden und die Juden

Nach den zahlreichen Antisemitismus-Skandalen steht die documenta vor einem Scherbenhaufen. Foto: picture alliance/dpa

Sabine Schormann ist gegangen. Die Generaldirektorin der documenta fifteen hat ihren Vertrag auflösen müssen. Das erste Bauernopfer ist gefallen. Folgen weitere? Ganz ehrlich – es ist egal. Denn wenn noch weitere Verantwortliche ihren Hut nehmen müssten, was würde es strukturell verändern? Nichts. Denn das Problem sitzt tiefer.

Es sind nicht nur einzelne Personen, die für das Versagen rund um die documenta verantwortlich sind. Es ist zunächst einmal das neue Denken. Das postkoloniale Denken, dessen Anspruch auf Wahrnehmung selbstverständlich legitim ist. Dessen Forderung nach Aufarbeitung einer schrecklichen Vergangenheit mehr als berechtigt ist. Das aber in sich antisemitische Züge trägt.

diskurs Der moderne europäische Antisemitismus war von dem Gedanken getragen, dass »der Jude« nicht zu Europa gehört. Und wer genau zugehört hat, konnte es raunen hören: »Geht doch dorthin zurück, woher ihr gekommen seid.« Der postkoloniale Diskurs dreht den Spieß um. Der Jude ist nun der Israeli, der letzte Vertreter des weißen Kolonialismus, und wieder heißt es: »Geht doch dorthin zurück, woher ihr gekommen seid.«

Die Identität des Juden wird geleugnet oder fremdbestimmt, wie man es gerade braucht.

Die Identität des Juden wird geleugnet oder fremdbestimmt, wie man es gerade braucht. Der Jude ist und bleibt das Fremde, das Bedrohliche an sich. Bedrohlich, weil er sich nicht anpassen will, weil er nicht den Platz einnehmen will, den ihm der Nichtjude zuweist.

Wir kennen all die Namen jener, die in den Medien derzeit gejagt werden, deren Köpfe metaphorisch rollen sollen, damit danach »alles wieder gut« ist. Aber es wird nicht mehr gut. Und das muss man begreifen. Die Problematik des documenta-Diskurses, die jedoch weder mit »postkolonial« noch mit »BDS« allein wirklich gut beschrieben ist, wird sich fortsetzen.

»selbstermächtigung« Der Diskurs all jener, die an eine universalistische Gleichheit glauben, wird sich weiter Gehör schaffen. Je ungleicher diese Welt wird, desto mehr. Und er wird sich mit Verve und Aggression weiterhin an den Juden abarbeiten. Weil man sich auch nach bald 75 Jahren nicht an die »Selbstermächtigung« der Juden gewöhnen kann und will. Allein die Tatsache, dass Israel ein Staat ist, der sich über Abgrenzung und nicht über Universalismus definiert, ist für viele bereits eine Provokation und delegitimiert ihn.

Hinzu kommt, dass Juden sich nach 2000 Jahren wieder zu Akteuren in der Geschichte gemacht haben und nicht mehr Opfer sind. Dass sie sich Macht angeeignet haben, mit all ihren guten und natürlich auch schlechten Seiten. Das passt vielen nicht, jenseits von tagespolitischen Fragen. Selbst wenn es einen palästinensischen Staat an der Seite Israels gäbe, bliebe das Problem, dass jüdische Identität seit biblischen Zeiten partikularistisch ist. Für viele (auch jüdische) Universalisten ein Grundproblem.

Es wird nicht mehr gut. Die Probleme sitzen tiefer. Das muss man begreifen.

Dabei ist das im Grunde eine uralte innerjüdische Debatte. Frei nach Emmanuel Levinas hat derjenige, der nach der jüdischen Identität fragt, sie bereits verloren, aber noch nicht ganz vergessen. Wer sie aber noch hat, der wird quasi immer der andere bleiben. Damit hatten und haben viele nichtjüdische Gesellschaften, vor allem in Europa, ihre Mühe.

universalismus Und ja, natürlich haben sich viele Juden in der Geschichte dem Universalismus verschrieben, weil sie an ihn geglaubt und als Befreiung aus ihrer miserablen Diaspora-Existenz angesehen hatten. Und viele Juden glauben immer noch an ihn, weil sie ihn als einzige Möglichkeit einer gerechteren Welt ansehen. Die Tragik ist, dass auch der Universalismus die Juden während der Schoa nicht vor ihrem Schicksal hatte bewahren können.

Daher wurde 1948 Israel für viele Juden zu einer neuen Option. Ob man den Staat nun mag oder nicht, ob man Zionist ist oder nicht, ob man für oder gegen die Besatzung ist, ob man sich dort heimisch fühlen kann oder nicht – ganz egal, wie man als individueller Jude zu Israel stehen mag, sogar für einen jüdischen Antizionisten bietet sich der jüdische Staat als Option für ein metaphysisch anderes Leben an, für eine jüdische Selbstbehauptung, die nicht mehr vom Wohlwollen der Nichtjuden abhängt.

Wohlgemerkt, es geht nicht um die reale Politik Israels, die man kritisieren kann und darf, so viel man will. Es geht um eine moderne jüdische Realität, die eine neue Situation im Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden geschaffen hat. Eine neue Situation, der es egal ist, was sich auf und um die documenta abspielt. Der es egal ist, was der »Globale Süden« denkt, der es egal ist, wie viele Antisemiten es auf dieser Welt gibt. Weil diese neue Situation selbstreferenziell ist.

israel Das alles sagt nichts über die Zukunft Israels aus und schon gar nichts über die Moral israelischer Regierungen. Vielleicht wird dieser jüdische Staat genauso untergehen wie die vorherigen Versuche in der jüdischen Geschichte.

In Deutschland, in der westlichen Welt müssen sich Nichtjuden der Frage stellen, wie universalistisch sie wirklich sind, wenn es um Juden geht.

Ein solches erneutes Scheitern würde den Judith Butlers und Omri Boehms dieser Welt und den anderen universalistischen Juden indes nicht automatisch recht geben. Im Gegenteil. Sollte Israel nicht mehr existieren, würde sich der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf deren Jüdischsein wohl rasch verändern. Und damit wären wir wieder bei der documenta und ihren Protagonisten.

Die Fragen, die sich vor allem die deutschen Beteiligten stellen müssen, haben am Ende doch nichts mit Postkolonialismus, nichts mit dem »Globalen Süden« zu tun, dessen eigenes Judenhass-Problem ganz anders aufgearbeitet werden muss.

In Deutschland, in der westlichen Welt müssen sich Nichtjuden der Frage stellen, wie universalistisch sie wirklich sind, wenn es um Juden geht. Und zwar: um alle Juden, auch jene, die ihnen nicht gefallen. Die politisch nicht ihren Ideen entsprechen. Juden, die partikularistisch sind und sein wollen. Die anders sein und sich ihre Identität von niemandem absegnen lassen wollen. For the better and the worse. Das aber ist dann doch eine uralte Frage, die schon sehr lange vor der documenta existierte.

Washington D.C.

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