Essay

Den Schaden haben die Juden in Thüringen

Promoviert an der Friedrich-Schiller-Universität Jena: Joël Ben-Yehoshua Foto: Gaby Schütze

Essay

Den Schaden haben die Juden in Thüringen

In der Debatte um die abgesagte Rede von Omri Boehm zum Buchenwald-Gedenken blieb etwas Entscheidendes unberücksichtigt: der wachsende Einfluss der AfD und des rechten Geschichtsrevisionismus. Ein Nachtrag

von Joël Ben-Yehoshua  28.04.2025 18:08 Uhr

In der Auseinandersetzung um die abgesagte Rede von Omri Boehm zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald haben er und die israelische Botschaft eines gemein: Im Zentrum der Debatte steht Omri Boehms Kritik an Israel. Keine Aufmerksamkeit erhält die politische Situation in Thüringen und die akute Bedrohung durch den Rechtsextremismus.

Zur Erinnerung: Bei den Landtagswahlen im September 2024 wurde die AfD mit knapp 33 Prozent der Stimmen mit Abstand stärkste Kraft in Thüringen. Bei der Bundestagswahl im Februar 2025 erhielt sie bereits 39 Prozent.

Insbesondere in Thüringen ist die AfD für ihren Rechtsextremismus und ihre Nähe zur Neonazi-Szene bekannt. Die Daten der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Thüringen zeigen, dass Geschichtsrevisionismus – also die Verherrlichung, Verharmlosung, Umdeutung oder Leugnung der Verbrechen des NS gegen Jüdinnen und Juden – die mit Abstand häufigste Form antisemitischer Vorfälle ist. Der Aussage »Es wird immer nur von der Judenverfolgung geredet. Wie die Deutschen gelitten haben, davon redet niemand« stimmten noch vor zwei Jahren 39 Prozent der Thüringer Befragten zu.

Die AfD nährt sich von diesem Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus. Björn Höcke, deutscher Faschist und Vorsitzender der Thüringer AfD, forderte etwa eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«. Heute, 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob der 90. Jahrestag dieser Befreiung in Thüringen überhaupt noch gefeiert wird, oder ob dann eine AfD-Regierung ein SS-Heldengedenken ausrichten wird.

Boehm hat zum deutschen Rechtsextremismus nichts zu sagen

Die deutsche Erinnerungspolitik steht enorm unter Druck, nicht zuletzt durch den Geschichtsrevisionismus der AfD. Omri Boehm jedoch hat nichts zum deutschen Rechtsextremismus zu sagen. Das Einzige, was ihm zur AfD einfällt, ist, diese mit den wechselnden Regierungen Israels gleichzusetzen.

Nun ist Omri Boehm vor allem ein Kritiker nicht der deutschen, sondern der israelischen Erinnerungspolitik. Wenn er das Gedenken an den Holocaust als »goldenes Kalb« bezeichnet, polemisiert er gegen Erinnerungspolitik in Israel, nicht in Deutschland. Gleichsetzungen seiner Kritik mit dem deutschen »Schuldkult«-Geschwafel gehen deshalb fehl. Diese Unterscheidung ist wesentlich, denn im Nachfolgestaat der Verfolger steht das Erinnern vor anderen Herausforderungen als im Nachfolgestaat der Verfolgten. Gerade Omri Boehm ist es jedoch, der diesen Unterschied im Rahmen eines freischwebenden Universalismus einebnen möchte. Folglich interessiert ihn die Spezifik der dramatischen Situation in Thüringen nur peripher.

Dieses intellektuelle Desinteresse an den Thüringer Zuständen findet sich nicht nur bei Boehm: Am 9. November 2022 hörte ich im Deutschen Nationaltheater in Weimar einen Vortrag von Aleida Assmann, in dem sie die Errungenschaften der bundesdeutschen Erinnerungskultur pries – ohne mit auch nur einem Wort auf 45 Jahre DDR oder die auch damals schon akute Bedrohung durch rechten Terror einzugehen.

Die komplexe Realität vor Ort steht quer zu den vereinfachten Narrativen über die Probleme von Erinnerungspolitik in Deutschland.

Im März 2024 lauschte ich dann Deborah Feldmann bei der Vorstellung ihres Buches »Judenfetisch« bei der Erfurter Herbstlese – versprochen wurde eine »kritische Analyse der jüdischen Gegenwart«, diskutiert wurde über jüdische Identitäten in Deutschland und das Verhältnis Deutschlands zu Israel. Es gab zwar kritische Fragen aus dem Publikum, weder Feldmann noch ihr Publikum erwähnten jedoch die AfD mit nur einem Wort – als hätte die Bedrohung durch die AfD und ihre Anhänger nichts mit der jüdischen Gegenwart in Thüringen zu tun.

Vor dem Hintergrund der Forderung einer Universalisierung der Erinnerung an die Schoa ist es nur konsequent, dass die Spezifika, in denen Erinnerungsarbeit hier und heute in Thüringen stattfindet, wenig Aufmerksamkeit erfahren. Prominente Israelkritikerinnen und -kritiker wie Assmann, Feldmann oder Boehm interessiert die Situation in Thüringen nicht – denn die komplexe Realität vor Ort steht quer zu den vereinfachten Narrativen über die Probleme von Erinnerungspolitik in Deutschland.

Komplexität zuzulassen hieße, bei jeder Kritik an der Erinnerungspolitik und der israelischen Regierung die deutsche Sehnsucht, die Vergangenheit zu verdrängen und Juden zu Tätern zu erklären, mitzudenken. Denn natürlich ist nicht jede Kritik an Israel und der Erinnerungspolitik antisemitisch – aber sie findet vor dem Hintergrund eines immer lauter werdenden antisemitischen Grundrauschens statt.

Die Einladung Boehms wirkte wie ein politisches Zeichen

Doch auch die israelische Botschaft hat gezeigt, dass sie sich für die Situation in Thüringen wenig interessiert. Sonst hätte sie gewusst, wie unklug es ist, ausgerechnet Jens-Christian Wagner Geschichtsklitterung vorzuwerfen. Durch ihre Versuche, den Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora zu diskreditieren, hat die Botschaft dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen.

Wagner engagiert sich nicht nur seit Jahren gegen Geschichtsrevisionismus in Thüringen, sondern wird dafür auch mit dem Tod bedroht. Im Rahmen des sogenannten »Historikerstreits 2.0« positionierte Wagner sich kritisch gegen Claudia Roths Reformpläne, die NS-Verbrechen stärker im Kontext von Kolonialverbrechen zu verorten. Er plädierte für wissenschaftlich fundierte statt interessengeleitete Erinnerungsarbeit.

Lesen Sie auch

Doch so wichtig Wissenschaftlichkeit in Erinnerungsarbeit auch ist: Wenn ein radikaler Kritiker der israelischen Politik wie Boehm zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung Buchenwalds als Redner eingeladen wird, obwohl dieser sich wenig für die gegenwärtigen Herausforderungen von Erinnerungspolitik in Deutschland interessiert, entsteht der Eindruck, man nutze dieses Jubiläum, um ein politisches Zeichen gegen die gegenwärtige israelische Politik zu setzen. Es ist nicht verwunderlich, dass die israelische Botschaft in der Einladung einen Affront sah.

Jens-Christian Wagner hätte Verantwortung übernehmen müssen, indem er etwa selbstkritisch eingesteht, dass die polarisierende Einladung ein Fehler war. Nach dem undiplomatischen Vorgehen der Berufsdiplomaten der Botschaft verzichtete aber auch Wagner auf Diplomatie und gab die Schuld für das Debakel allein der Botschaft.

Den Schaden tragen nicht zuletzt die Juden in Thüringen: Einerseits, weil Wagners Behauptung, allein wegen Kritik der israelischen Botschaft habe man Boehm nicht sprechen lassen können, Wasser auf die Mühlen der Antisemiten ist. Andererseits ist nun zu erwarten, dass Thüringer Geschichtsrevisionisten sich auf die israelische Botschaft berufen werden, wenn es darum geht, die wichtige Arbeit von Jens-Christian Wagner zu diskreditieren.

Der Autor promoviert in Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. In seinem Dissertationsprojekt geht es um Antisemitismus im Werk Johann Gottlieb Fichtes.

Existenzrecht Israels

Objektive Strafbarkeitslücke

Nicht die Gerichte dafür schelten, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht macht. Ein Kommentar

von Volker Beck  23.11.2025

Dortmund

Ermittlungen gegen Wachmann von NS-Gefangenenlager 

Die Polizei ermittelt gegen einen Ex-Wachmann des früheren NS-Kriegsgefangenenlagers in Hemer. Er soll an Tötungen beteiligt gewesen sein - und ist laut »Bild« inzwischen 100 Jahre alt

 22.11.2025

Deutschland

»Völlige Schamlosigkeit«: Zentralrat der Juden kritisiert AfD-Spitzenkandidat für NS-Verharmlosung

Der AfD-Spitzenkandidat aus Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, äußert sich einschlägig in einem Podcast zur NS-Zeit

von Verena Schmitt-Roschmann  21.11.2025

München

»Wir verlieren die Hoheit über unsere Narrative«

Der Publizist und Psychologe Ahmad Mansour warnte in München vor Gefahren für die Demokratie - vor allem durch die sozialen Netzwerke

von Sabina Wolf  21.11.2025

Kommentar

Wenn Versöhnung zur Heuchelei wird

Jenaer Professoren wollen die Zusammenarbeit ihrer Universität mit israelischen Partnern prüfen lassen. Unter ihnen ist ausgerechnet ein evangelischer Theologe, der zum Thema Versöhnung lehrt

von Tobias Kühn  21.11.2025

Kommentar

Martin Hikel, Neukölln und die Kapitulation der Berliner SPD vor dem antisemitischen Zeitgeist

Der bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

Deutschland

»Hitler ist niedergekämpft worden. Unsere Städte mussten in Schutt und Asche gelegt werden, leider«

Militanter Linker, Turnschuhminister, Vizekanzler und Außenminister: Das sind die Stationen im Leben des Grünenpolitikers Joschka Fischer. Warum er heute vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer ein anderes Bild als früher hat

von Barbara Just  21.11.2025