Kommentar zur Europawahl

Europa braucht starke »Systemparteien«

Michael Thaidigsmann Foto: privat

Die freudigen Gesichter von Ursula von der Leyen und Friedrich Merz über das Abschneiden der Union können nicht darüber hinwegtäuschen: Die Europawahl ist eine Zäsur für der Europäische Union. Das gilt nicht nur im Hinblick auf Deutschland.

Dass eine Partei, die der Inlandsgeheimdienst mit gerichtlicher Billigung wegen verfassungsfeindlicher Umtriebe als einen »Verdachtsfall« einstuft, zweitstärkste Kraft bei einer bundesweiten Wahl wird, ist ein Armutszeugnis für ein Land, das Europa vor 85 Jahren in die schlimmste Katastrophe der Geschichte trieb. Wenn man bedenkt, welch erbärmlichen Wahlkampf die AfD hingelegt hat, welche Skandale ihr Spitzenkandidat Maximilian Krah und der Zweitplatzierte auf der Liste, Petr Bystron, auf dem Kerbholz haben, dann sind 15 oder 16 Prozent für eine rechtsextreme Kraft einfach beschämend.

Wenn das als Wählerbeschimpfung aufgefasst wird, bitte sehr! Nicht in erste Linie die anderen Parteien sind nämlich schuld, wenn radikale Kräfte Aufwind bekommen, sondern die Wähler dieser Parteien!

Auch bei Erstwählern, also der Gruppe der 16-23-Jährigen, konnte die AfD stark punkten. Ob es an ihrem Wahlkampf in den sozialen Netzwerken lag? »Wir werden das in den nächsten Wochen genauer analysieren müssen«, sagen die Verlierer an Wahlabenden ja immer unisono. Dass ausgerechnet die jüngsten unter den Wählern so häufig populistische und sogar rechtsradikale Kräfte ankreuzen, sollte aber jeden Demokraten erschaudern lassen. Das muss wirklich analysiert werden!

Anti-europäische Kräfte

Der Blick in die Nachbarländer stimmt auch nicht optimistischer. In Österreich wurde die FPÖ, nach dem Krieg als Sammelbecken von Alt-Nazis gegründet und unter ihrem Chef Herbert Kickl wieder auf stramm rechtsradikalem Kurs, sogar stärkste Kraft, auch das ein Novum.

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In Frankreich lag die Partei Rassemblement national (RN) von Marine Le Pen mit großem Vorsprung vor allen anderen Parteien. Der RN kam laut Prognosen auf fast ein Drittel der abgegebenen Stimmen – mehr als doppelt so viele wie die zweitplatzierte Regierungspartei von Emmanuel Macron und doppelt so viele wie noch 2019. Grund genug für den Staatspräsidenten, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen. Der Ausgang ist völlig ungewiss. Sicher ist jedoch, dass eine Regierungschefin Marine Le Pen ein Problem für Europa wäre.

In Italien (von dort kamen Ergebnisse erst am späten Abend) dürfte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Nase vorn haben. In Belgien kam der rechtsextreme Vlaams Belang (Nachfolger des Vlaams Blok) zwar nur auf den zweiten Platz, hinter den in Flandern regierenden Nationalisten von der N-VA. Aber er erzielt ebenfalls deutliche Zuwächse.

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All diese Formationen haben eines gemeinsam: Sie sind im Kern anti-europäisch, wollen zurück zum Nationalstaat, stellen die Errungenschaften der Europäischen Union in Frage. Sicher, von einer Mehrheit im Europäischen Parlament sind diese Parteien weit entfernt, die letzten Ergebnisse zeigen, dass die drei größten Fraktionen im Parlament wohl zusammen weiterhin eine deutliche absolute Mehrheit haben werden.

Und untereinander sind sich die Rechtsaußen auch nicht so recht grün, wie der Ausschluss der AfD aus der gemeinsamen Fraktion »Identität und Demokratie« vor einigen Wochen gezeigt hat. Aber mit jeder Wahl gewinnen sie im Europaparlament an Gewicht.

Hinzu kommen zahlreiche Splitterparteien, die bislang wegen Sperrklauseln keine Chance auf ein Mandat hatten, und neue Formationen wie das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Die sogenannten etablierten politischen Kräfte, die von Rechts und von Links unisono als »Systemparteien« (ein Kampfbegriff der AfD) diffamiert werden, zerbröseln immer mehr.

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Dabei bräuchte Europa genau das: Systemparteien, die den Gedanken der europäischen Einigung hochhalten, die die Arbeit der anderen Institutionen kontrollieren, die Gesetzentwürfe konstruktiv beraten und nicht bloß rhetorische Schaumschlägereien aufführen. Oder bescheuerte Kacheln auf ihren Instagram-Seiten posten, wie eine große deutsche Partei es zuletzt getan hat.

Die Europapolitik wird leider immer noch stiefmütterlich behandelt bei den großen Parteien. »Die da« in Brüssel und »wir hier in Deutschland«: Dieses Zerrbild existiert immer noch. Und die europaskeptischen Parteien schlachten dies gnadenlos aus.

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Eines sollte jedem Demokraten klar sein: Auch das komplexe Gebilde der EU, das in der Welt einzigartig ist, könnte irgendwann einmal einstürzen wie ein Kartenhaus. Dann nämlich, wenn es von den Extremen am rechten und linken Rand des Spektrums in einer Art Zangenbewegung angegriffen wird.

Für ein solches Szenario braucht es gar nicht viel Fantasie. Und dazu muss man auch nicht die umstrittene Hufeisentheorie bemühen. Es reicht ja schon, dass die pro-europäischen Kräfte sich bei wichtigen Themen nicht mehr einigen können, weil sie unter Dauerfeuer genommen werden von Populisten und Radikalen aller Couleur, die selbst keine Verantwortung für die EU als Ganzes übernehmen wollen.

Sicher, die Entscheidung bei der Europawahl, zu der 380 Millionen Menschen aufgerufen waren, war meist von nationalen Erwägungen bestimmt. Nur selten ging es um originäre Themen der EU-Politik.

Aber es ging um viel. Es ging um Themen, bei denen die EU - ob sie es will oder nicht - liefern muss. Den AfD-Wählern im Speziellen ging es um die Frage der Kriminalität und um die Beschränkung der Zuwanderung. Gerade in diesen beiden Punkten hatte die Europapolitik in den letzten Jahren einiges auf den Weg gebracht, vor allem der Asylkompromiss Anfang diesen Jahres. Wahrgenommen wurde das nicht - vielleicht auch, weil es noch nicht umgesetzt wurde. Oder aber, weil die Ergebnisse der Europapolitik, so gut sie auch sein mögen, zynisch gesagt bei Wahlen kein Schwein interessieren.

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Jedenfalls haben die Parteien der Ampelkoalition einen müden, uninspirierten Wahlkampf hingelegt und jetzt die Quittung für ihre Arbeit in Berlin bekommen. Die CDU von Friedrich Merz konnte ihr Ergebnis von 2019 nur halten, aber nicht ausbauen. Auch das kein Ruhmesblatt angesichts des desolaten Zustands der Ampelparteien.

Die Auswirkungen düften auch in Brüssel spürbar sein: Ursula von der Leyen dürfte zwar die Nominierung durch den Europäischen Rat für eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin (sprich: Regierungschefin der EU) nicht zu nehmen sein.

Putin wird sich freuen

Ob sie angesichts der Mehrheitsverhältnisse m neuen Parlament in geheimer Abstimmung auf eine absolute Mehrheit kommt, erscheint aber mit dem heutigen Wahltag mehr als fraglich. Denn selbst in den eigenen Reihen hat von der Leyen Gegner, auf die Stimmen der Radikalen von rechts und links wird sie sicherlich nicht zählen können. Und selbst bei einigen Mitgliedern der eigenen Fraktion der EVP dürfte die Niedersächsin auf Granit beißen.

Fazit dieser Wahl: Die Europäische Union steht sicher nicht vor dem Untergang. Sie wird in den nächsten Wochen aber auf eine schwere Probe gestellt – vor allem dann, wenn ein Machtkampf ausbricht um den wichtigsten Posten. Gefallen dürfte das nur den Feinden Europas, Leuten wir Wladimir Putin. Dessen Bündnispartner (auch wenn sie sich selbst nicht so bezeichnen würden) haben heute ein tolles Ergebnis eingefahren.

Das alles sind keine guten Nachrichten – schon gar nicht für Deutschland, das vom europäischen Markt mehr abhängt als andere. Es wäre daher gut, wenn das Wahlvolk beim nächsten Mal etwas vorausschauender wäre bei der Stimmabgabe und sich nicht nur von Stimmungen leiten ließe. Aber das ist wohl ein frommer Wunsch.

Der Autor ist Brüssel-Korrespondent dieser Zeitung.

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