Integration

Bunte Republik

Lob der Vielfalt: Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Tatsache – und sie hat Zukunft. Foto: Fotolia

Während erstmals Hunderttausende Menschen in der muslimischen Welt ihr Leben für Freiheit und Menschenrechte riskieren, nutzt die CSU hierzulande die Islam-Äußerungen ihres neuen Bundesinnenministers als Steilvorlage für eine »Leitkultur«-Kampagne – zum dankbaren Schrecken Linker und Linksliberaler. Bekannte Reflexe, vertraute Rollen.

Man könnte müde abwinken, würde die Diskussion nicht auf dem Rücken der Muslime geführt: Die Verteidiger des »christlichen Menschenbildes« nutzen die Islamdebatte, um neue Wähler zu gewinnen. Deren Gegner wiederum zeigen wenig Interesse, den beispiellosen Erfolg Thilo Sarrazins und seiner Trittbrettfahrer zu ergründen. Zudem reden beide Lager aneinander vorbei: Von Rechts wird historisch argumentiert, die Gegenseite blickt auf das Hier und Jetzt.

Multikulti Sicher ist: Es geht um die fundamentale Frage des Zusammenlebens in dieser Republik. Höchste Zeit also, die Sache nüchtern zu analysieren und auch einen Blick durch die Brille der anderen zu riskieren. Vielleicht stellt sich dann heraus, dass »Leitkultur« und »Multikulti« gar keine Gegensätze sind, sondern einander ergänzen sollten.

Will man den Begriff »Kultur« einstweilen übernehmen, dann ist schnell klar: In Deutschland gibt es viele verschiedene. Von Juden diverser Strömungen über erzkatholische Ratzinger-Jünger und atheistische Ostalgiker bis hin zu kemalistischen Aleviten, um nur einige zu nennen. Die multikulturelle Gesellschaft ist eine Tatsache – und alles andere als »tot«.

Die Grundfrage lautet: Hatte eine der Kulturen bisher eine leitende Funktion inne? Und wenn ja: Sollte sie dies auch künftig tun? Die Antwort darauf wird zugleich die Lösung des Rätsels sein, »wo hinein« Integration eigentlich erfolgen soll.

Islam Es ist evident, dass der sogenannte Westen am stärksten vom Christentum geprägt worden ist. Später traten Humanismus und Aufklärung hinzu. Wichtige Beiträge lieferte auch das Judentum. Und ohne die Einflüsse aus der muslimischen Welt hätte es die europäische Renaissance so wohl nicht gegeben. Was Deutschland betrifft, wurde »der« Islam spätestens in den 60er-Jahren mit den Gastarbeitern zu einer hier ansässigen Kultur und »gehört« insofern dazu.

»Leitkultur« – ein schwieriger, ein schillernder und dennoch ein bewahrenswerter Begriff. Denn er ist eingeführt und kommt dem Orientierungsbedürfnis vieler Menschen entgegen. Aber wir müssen ihn sinnvollerweise aufspalten: in eine historische und eine politische Leitkultur.

Das Christentum ist die historische Leitkultur innerhalb der multikulturellen Realität Deutschlands. Aber selbst Unionspolitiker werden einsehen, dass sich Nichtchristen kaum in das Christentum integrieren lassen. Denn das wäre nichts anderes als Assimilation: Anpassung, Verschmelzung, Aufgabe des eigenen religiös-kulturellen Erbes – und damit Auflösung.

Integration Die deutschen Juden haben in den vergangenen beiden Jahrhunderten erfahren müssen, dass Assimilationsbereitschaft keinesfalls belohnt wird. Dass sich heute die russischen Zuwanderer verhältnismäßig leicht integrieren, hat wohl damit zu tun, dass sie sich zugleich vor Anpassung zu hüten wissen. Ein jüdischer Beitrag zur Integration der Muslime könnte sein, diesen die gesunde Furcht vor Assimilation weiterzugeben und ihnen gleichzeitig die Angst vor Integration zu nehmen.

Integration in diesem Sinne bedeutet den freiwilligen Beitritt zu einer politischen Leitkultur. Bestandteile dieser säkularen Basis aller hier lebenden Kulturen sind: gleiche Würde aller Menschen, die Grundrechte, die freiheitlich-demokratische Ordnung, Gleichberechtigung der Geschlechter sowie Trennung von Staat und Religion.

Damit es nicht bei einem blassen Verfassungspatriotismus bleibt, der nur Intellektuelle erreicht, müssen wir dem Ganzen Leben einhauchen. Wir brauchen eine farbenprächtige demokratische Festkultur, ähnlich den USA. Auch wir müssen unsere demokratischen Vorbilder öffentlich ehren und popularisieren: von den 1848ern über Republikaner wie Walther Rathenau und die Geschwister Scholl bis hin zu den Helden der Revolution von 1989. Und wir müssen Zivilcourage an der Basis auszeichnen.

So könnte eine politische Leitkultur aussehen, die unserer multikulturellen Gesellschaft entspricht. Wer diese bejaht und sich nach bestem Vermögen bemüht, die hiesige Sprache zu beherrschen, der gehört zu Deutschland. Egal, woher er stammt. Egal, woran er sonst noch glaubt.

Der Autor ist Journalist und Religionshistoriker.

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025

Gaza/Westjordanland

Umfrage: Mehr als die Hälfte der Palästinenser befürwortet die Massaker vom 7. Oktober 2023

Klare Mehrheit der Palästinenser zudem gegen Entwaffnung der Hamas

 21.12.2025

Interview

»Die Zustände für Juden sind unhaltbar. Es braucht einen Aufstand der Anständigen«

Zentralratspräsident Josef Schuster über den islamistischen Anschlag von Sydney und das jüdische Leben in Deutschland nach dem 7. Oktober

 21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Faktencheck

Berichte über israelischen Pass Selenskyjs sind Fälschung

Ukrainische Behörden ermitteln wegen hochrangiger Korruption. Doch unter diesen Fakten mischen sich Fälschungen: So ist erfunden, dass bei einer Razzia ein israelischer Pass Selenskyjs gefunden wurde

 20.12.2025

Analyse

Ankaras Machtspiele

Manche befürchten schon einen »neuen Iran«. Warum Israel die Türkei zunehmend als Bedrohung wahrnimmt

von Ralf Balke  20.12.2025

Bundestag

Zentralrat verteidigt Weimers Gedenkstättenkonzept

Der Ausschuss für Kultur und Medien hörte Experten zu der Frage an, ob über den Holocaust hinaus auch andere Verbrechen Teil der deutschen Erinnerungskultur sein sollen

 19.12.2025

Frankreich

Drei Jahre Haft für antisemitisches Kindermädchen

Ein französisches Gericht hat eine Algerierin zur einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie einer jüdischen Familie Reinigungsmittel ins Essen, Trinken und die Kosmetika mischte

 19.12.2025

Berlin

Bericht über Missbrauch internationaler Hilfe durch Hamas im Bundestag vorgestellt

Olga Deutsch von der Organisation NGO Monitor sagt, während die Bundesregierung über Beiträge zum Wiederaufbau Gazas berate, sei es entscheidend, auf bestehende Risiken hinzuweisen

von Imanuel Marcus  19.12.2025