Frankfurt/Kassel

Stephan E. gesteht Mord an Walter Lübcke

Der ehemalige Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (CDU) Foto: dpa

Frankfurt/Kassel

Stephan E. gesteht Mord an Walter Lübcke

Es ist das mittlerweile dritte Geständnis des Angeklagten. Was ist davon zu halten?

 05.08.2020 16:50 Uhr Aktualisiert

Es ist das Geständnis, auf das so viele gewartet haben. Zwei Sätze, die es in sich haben. »In dem Moment sah ich, dass er wieder aufstehen wollte. Und da habe ich geschossen.« Im Saal des Oberlandesgerichts Frankfurt herrscht völlige Stille, als Rechtsanwalt Mustafa Kaplan die Einlassungen seines Mandanten Stephan Ernst zum Tod von Walter Lübcke verliest. Eine neue Beschreibung des Hergangs in jener Nacht vor 14 Monaten, in der Kassels Regierungspräsident auf der Terrasse seines Wohnhauses erschossen wurde.

Demnach fuhr Ernst zusammen mit Markus H., der wegen Beihilfe angeklagt ist, zum Wohnort des CDU-Politikers. H. habe ihm kurz zuvor noch gesagt: »Wenn er blöd kommt, dann erschieß‘ ihn.« Angeblich sollte sich erst vor Ort entscheiden, ob der 65-Jährige »nur« bedroht und eingeschüchtert werden sollte oder ob die Waffe zum Einsatz komme. »Der Einsatz der Waffe war auf jeden Fall eine Alternative, die wir in Betracht zogen«, lässt Ernst über seinen Anwalt sagen.

Am Nachmittag antwortet Ernst auch selbst auf Fragen des Gerichts, demonstriert, wie H. und er sich Lübcke genähert hätten, wie der Politiker sich aufzurichten versuchte. Nur wenige Meter steht er dabei von Lübckes Angehörigen entfernt, die ernst, konzentriert und ohne sichtbare Gefühlsregung zuhören.

Ganz nahe habe er in jener Juni-Nacht 2019 Lübcke die Waffe vors Gesicht gehalten und ihm sinngemäß vorgehalten: »Für so was gehe ich jeden Tag arbeiten«. H. habe noch, an Lübcke gerichtet, gesagt: »Zeit zum Auswandern.« Wenig später sei der Schuss gefallen. Der Regierungspräsident sei zusammengesunken. Auf der Flucht habe er, Ernst, zu H. gesagt: »Ich glaube, ich habe ihn im Kopf getroffen.«

Mit seiner Einlassung richtet sich der 46-Jährige, selbst Familienvater, auch an die Witwe und die beiden Söhne seines Opfers. »Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.« Gleich drei Mal. Die Familie sitzt ihm gegenüber, wie an fast jedem Verhandlungstag. »Was wir gemacht haben, war falsch, grausam und feige.« Dann lässt er seinen Anwalt sagen: »Ich würde es gerne rückgängig machen.« Er habe sich von »falschen Gedanken und falschen Personen leiten lassen«. H. nennt er seinen »Mentor«, der ihn radikalisiert habe.

Ist das nun das frühzeitige und »von Reue getragene Geständnis«, wie es der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel Ernst gleich zu Beginn des Verfahrens nahegelegt hatte? Wie um den Bruch mit einer Vergangenheit voller Überfremdungsparolen und Hass auf Flüchtlinge zu demonstrieren, teilt Ernst über seinen Anwalt mit, er wolle an einem Aussteiger-Programm teilnehmen - je früher, desto lieber. Auch offene Fragen, die die Familie zu der Tatnacht vielleicht noch habe, wolle er beantworten helfen.

Und die vorangegangenen Tatversionen, das widerrufene Geständnis seiner Einzeltäterschaft und die Version eines »Unfalls«, bei dem sich der Schuss versehentlich gelöst habe, als H. die Waffe in der Hand gehalten habe? Ernsts Erklärung: Seine früheren, mittlerweile entlassenen Verteidiger hätten ihm das so empfohlen. Zugleich gibt er H. einen deutlich höheren Stellenwert als im ersten Geständnis - als der Mann, der politisch das große Wort führte, der ihn zu Schießübungen im Wald mitgenommen habe.

Am Nachmittag will das Gericht ganz genau wissen, wie das mit der Waffe gedacht gewesen sei. Ein Warnschuss, zur Einschüchterung, meint Ernst zunächst und betont: »Die Entscheidung habe letzten Endes ich getroffen.« Auf Nachfragen sagt er, es sei vereinbart gewesen, die Waffe auf Lübcke zu richten, »dass wir auf jeden Fall auf Herrn Lübcke schießen.« Von der Ankunft auf dem Grundstück bis zu dem Schuss habe es »vielleicht zwei Minuten« gedauert. Und die Rolle von H., der ihm mit einer Handbewegung signalisiert habe, dass es losgehen könne? Wenn er sich nicht in Bewegung gesetzt hätte, so Ernst auf die Frage des Richters, »dann wäre ich nicht losgegangen.«

Während der Schilderung der Tatnacht wirkt Ernst am Vormittag in sich gekehrt, blickt nicht direkt zur Witwe und den Söhnen. Gefühle zeigt er, als es um seine Kindheit, den prügelnden und trinkenden Vater geht. Sein Kiefer ist verkrampft, immer wieder greift er zum Taschentuch.

Auf sich selbst bezogen sind auch die letzten Worte der vom Verteidiger verlesenen Einlassung. Darin ist die Rede davon, wie sehr er seine Frau und seine beiden Kinder vermisst. Zu seiner 16 Jahre alten Tochter habe er seit seiner Festnahme keinerlei Kontakt: »Sie will das nicht.« Ihn treffe das emotional schwer, doch er könne es ihr nicht verübeln. »Ich hoffe, dass sie mir eines Tages verzeihen kann.« dpa

Parteien

Justiz prüft Äußerungen nach Neugründung von AfD-Jugend 

Nach einer Rede beim AfD-Jugendtreffen prüft die Staatsanwaltschaft Gießen mögliche Straftatbestände

von 
janet Ben Hassin  10.12.2025

Debatte

Merz, Trump und die Migration

Deutschlands Bundeskanzler reagiert auf die Vorwürfe des US-Präsidenten

von Jörg Blank  10.12.2025

Antisemitismus

Konzert-Comeback: Wie umgehen mit Xavier Naidoo?

Xavier Naidoo kehrt auf die großen Bühnen zurück. Ausverkaufte Hallen treffen auf Antisemitismus-Vorwürfe, anhängige Verfahren und eine umstrittene Entschuldigung - und auf die Frage, wie man heute dazu steht

von Stefanie Järkel, Jonas-Erik Schmidt  10.12.2025

Initiative

Bayerns Landtag will Yad-Vashem-Bildungszentrum in Freistaat holen

Die Idee hatte die Ampel-Koalition von Olaf Scholz: Eine Außenstelle der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland. Der Bayerische Landtag hat sich nun für einen Standort im Freistaat ausgesprochen

von Barbara Just  10.12.2025

Paris/Brüssel

EU-Gaza-Hilfe: Französischer Politiker hat »große Bedenken«

Benjamin Haddad, Frankreichs Staatssekretär für Europafragen, hat die Europäische Kommission aufgefordert, ihre Zahlungen an NGOs, die im Gazastreifen operieren, besser zu überwachen

 10.12.2025

Aufarbeitung

Französische Entnazifizierungs-Dokumente erstmals online abrufbar

Neue Hinweise zu Leni Riefenstahl und Martin Heidegger in der NS-Zeit: Künftig können Forscher online auf französische Akten zugreifen. Experten erwarten neue Erkenntnisse

von Volker Hasenauer  10.12.2025

Deutschland

Wegen Antisemitismus und AfD: Schauspiellegende Armin Mueller-Stahl (95) denkt ans auswandern

Armin Mueller-Stahl spricht offen über seine Gelassenheit gegenüber dem Tod – und warum aktuelle Entwicklungen ihn dazu bringen, übers Auswandern nachzudenken

 10.12.2025

Justiz

Mutmaßlicher Entführer: Chef eines israelischen Sicherheitsunternehmens packt aus

Die Hintergründe

 10.12.2025

Fußball

Sorge vor Maccabi-Spiel in Stuttgart

Tausende Polizisten, Metalldetektoren beim Einlass, Sorge vor Gewalt: Warum der Besuch von Maccabi Tel Aviv in der Europa League beim VfB aufgrund der politischen Lage kein sportlicher Alltag ist.

 10.12.2025