Louis Lewitan

Zur Freiheit gibt es keine Alternative

Oh, felix Austria, das Glück hat dich wieder verlassen. Nach fast 30 Jahren hat der Terror erneut in Wien zugeschlagen. Damals, im Sommer 1981, verübten mit Maschinenpistolen und Handgranaten bewaffnete palästinensische Terroristen einen Anschlag auf die Synagoge in der Seitenstettengasse. Zwei Menschen starben, 18 wurden verletzt. Eine kleine Tafel erinnert an das brutale Verbrechen. Eine neue wird bald hinzukommen.

In der prachtvollen Innenstadt herrschte, trotz oder gerade wegen Corona, so wenige Stunden vor den verordneten Ausgangsbeschränkungen eine heitere Gelassenheit. In den engen Gassen, nahe der Synagoge, waren die Restaurants und Cafés voll. Ich war zu Gast im israelischen Restaurant Neni, als die erste Schreckensmeldung eintraf. Anrufe bei der Polizei brachten keine Klärung der Sachlage. Minuten später erfuhr ich aus Israel, dass ein Anschlag in der Nähe der Synagoge stattgefunden hatte. Weiter essen, sich nicht einschüchtern lassen oder sich in Sicherheit bringen? Ich entschied mich für letzteres.

OHNMACHT Innerhalb weniger Minuten stand Wien Kopf, leergefegte Straßen, eine bleierne Ratlosigkeit lag in der Luft. Passanten waren nicht zu sehen. Alle warteten darauf, dass der oder die Terroristen gefasst bzw. neutralisiert werden, wie es heute heißt. Im Grunde wünscht man sich klammheimlich, dass sie getötet werden, doch Rache ist ein schlechter Ratgeber. Solche Aufwallungen behält man lieber für sich.

Weshalb wollen Extremisten uns vorschreiben, worüber wir lachen dürfen?

Stattdessen drängen sich Gefühle von Ohnmacht und Wut auf, es ist ein Aufbegehren gegen die eigene resignative Hilflosigkeit. Die Konfrontation mit der eigenen Verwundbarkeit und Endlichkeit sitzt tief in den Knochen. Das seltsame Gefühl einer unwirklichen Wirklichkeit schafft einen nicht lösbaren Denkknoten. Der Verstand sucht nach Antworten, diese bleiben aus. Man scheitert am Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen, das Unerklärliche zu erklären. Warum hier in Wien, in unmittelbarer Nähe der Synagoge? Sollten erneut Juden ermordet werden? Weshalb darf man nicht friedvoll leben und seinen Einspänner genießen? Weshalb wollen Extremisten uns vorschreiben, worüber wir lachen dürfen?

BÜRGERTUGEND Ob Jude, Christ, Moslem oder Atheist, ob Österreicher, Franzose oder Neuseeländer, wir alle sind zur Zielscheibe von Willkür und Terror geworden. Die Einschläge in Graz, Berlin oder Paris offenbaren, wie leicht es ist, unsere Freiheit auszunutzen, um Terror zu verbreiten. Es fällt uns schwer, uns einzugestehen, dass es keine stabile Sicherheit gibt. Messerattacken, Bombenattentate gehören zur neuen Wirklichkeit.

Ob Rechtsradikale oder Islamisten, sie sind Brüder im Geiste, allesamt Extremisten.

Was folgt daraus? Wir sollten uns nicht ins Private zurückziehen, selbst in Corana-Zeiten nicht. Offenheit und Anteilnahme sind mehr denn je essenzielle Bürgertugenden. Partizipation statt Resignation ist gefragt. Wir sollten, nein wir müssen uns als Bürger für die Demokratie stark machen. Jeder und jede auf seine Weise. Freiheit ist keine leichtverdiente Erbschaft, sondern eine tägliche Herausforderung. Zur Freiheit gibt keine Alternative.

Der Anschlag in Wien war ein Anschlag auf alle, die für eine uneingeschränkte Presse-, Rede und Versammlungsfreiheit eintreten. Ob Rechtsradikale oder Islamisten, sie sind Brüder im Geiste, allesamt Extremisten. Sie wollen die Demokratie aushebeln. Wer nach diesem Blutbad ruhigen Gewissens schläft, ist gewissenlos oder naiv. Wer heutzutage schlecht schläft, hat allen Grund dazu. Trotz aller Widrigkeiten, trotz aller Rückschläge dürfen wir uns nicht entmutigen lassen. Allen düsteren Wolken zum Trotz, eines ist schon heute absehbar: Der Wiener Schmäh wird definitiv zurückkehren.

Der Autor ist Psychologe und Stressmanagement-Experte.

Meinung

Sahra Wagenknecht - Die neue Rechte von der alten Linken

Was ist schlimmer? Die Realität oder mein Alptraum?

von Louis Lewitan  07.12.2023

Ramona Ambs

PEN: Auch Schweigen ist eine Haltung

Auch ein pluralistischer und vielfältiger Verband braucht einen Minimalkonsens – und der droht gerade verloren zu gehen

von Ramona Ambs  07.12.2023

Nils Kottmann

Der Trotz des Twitter-Chefs

Die Nutzer der Plattform haben verstanden, dass eine fruchtbare Debatte Moderatoren und Grenzen des Sagbaren braucht. Es wird Zeit, dass auch Elon Musk das einsieht

von Nils Kottmann  06.12.2023

Daniel Neumann

Wir lassen uns nicht unterkriegen!

Die Terrorgefahr in Deutschland ist so hoch wie lange nicht mehr. Trotzdem gilt es, den Kopf hochzuhalten, findet unser Gastautor

von Daniel Neumann  05.12.2023

Meinung

Wenn aus Vielfalt Einfalt wird

Wie bei der documenta gibt es auch bei der Mannheimer Biennale ein Antisemitismus-Problem

von Ralf Balke  01.12.2023

Sabine Brandes

»Nette« Massenmörder der Hamas

Die Schönredner in aller Welt haben ein neues »Beweismittel« gefunden, um den Terroristen die Absolution zu erteilen

von Sabine Brandes  29.11.2023

Rabbiner Pinchas Goldschmidt

Kopftuchverbot und Kollateralschaden

Erneut hat der Europäische Gerichtshof ein Urteil zur Religionsfreiheit getroffen, das verstört

von Rabbiner Pinchas Goldschmidt  29.11.2023

Kommentar

Danke für nichts, Gil Ofarim

Zweifellos hat der Musiker auch der jüdischen Gemeinschaft Schaden zugefügt - doch das größte Opfer ist ein anderer

von Michael Thaidigsmann  29.11.2023

Kommentar

Elfriede Jelineks Abrechnung mit der Hamas

Die Schriftstellerin findet klare Worte für die Terroristen. Daran könnten sich andere Linke ein Beispiel nehmen

von Thomas Tews  29.11.2023