Während die Hamas weiterhin Geiseln in Gaza festhält und jeden politischen Ausweg blockiert, bekräftigen mehrere westliche Staaten ihre Absicht, Palästina noch in diesem Herbst als Staat anzuerkennen. Was als moralisches Statement gemeint ist, könnte sich bei näherer Betrachtung als strategischer Trugschluss erweisen – mit potenziell weitreichenden Folgen für die politische Realität vor Ort.
Denn die beabsichtigte Stärkung palästinensischer Selbstbestimmung wird durch eine gewiss unbeabsichtigte, doch deutliche Botschaft konterkariert: dass sich politische Gewalt langfristig auszahlt. Symbolpolitik dieser Art birgt das Risiko, die bestehende Konfliktdynamik zu verfestigen, anstatt sie zu überwinden.
So kündigte der britische Premierminister Keir Starmer an, Palästina im September anerkennen zu wollen, »es sei denn, Israel stimme einem Waffenstillstand zu«. Diese Formulierung macht also allein Israel für das Ge- oder Misslingen einer Waffenruhe verantwortlich und blendet die Rolle der Hamas vollständig aus. Damit setzt Starmer einen scheinbar klaren moralischen Maßstab – der jedoch in der Praxis genau jene Dynamiken zementiert, die zur Eskalation geführt haben. Denn die implizite Botschaft lautet: Wer durchhält, wird am Ende diplomatisch belohnt.
Dies ist ein Signal, das von der Hamas genau verstanden wird. Sie hat jetzt keinen Grund mehr, einer Waffenruhe zuzustimmen. Sie erreicht ihr Ziel gerade dadurch, dass sie sich einer Lösung verweigert.
Wie sehr die Organisation genau darauf setzt, zeigt ein Interview mit Hamas-Sprecher Walid Kilani in der taz vom 30. Juli. Der Aufforderung der Arabischen Liga, die Waffen niederzulegen und Gaza an die Autonomiebehörde zu übergeben, begegnet Kilani mit entschiedener Ablehnung. Die Freilassung der israelischen Geiseln sei nur als Teil eines Abkommens möglich, das auch den israelischen Rückzug umfasse. – Das Kalkül ist offenkundig: Die Hamas setzt nicht auf Verhandlungslösungen, sondern auf eine Politik der Erpressung, die sie als Machtfaktor erhalten soll.
Besorgniserregend ist dabei weniger die Position der Hamas selbst – die ist hinlänglich bekannt –, sondern dass sie in Teilen des westlichen Diskurses ausgeblendet wird. Dass dieser Krieg nur aufgrund des Massakers am 7. Oktober und der andauernden Geiselnahme von immer noch mehr als 50 Menschen geführt wird, tritt zurück hinter die erschütternden Bilder des Leids, die täglich aus Gaza um die Welt gehen. Diese Bilder sind menschlich zutiefst bewegend – doch sie dürfen politisch nicht isoliert betrachtet werden. Wer nur die Folgen sieht, aber nicht mehr nach den Ursachen und Zusammenhängen fragt, läuft Gefahr, aus Mitgefühl Maßstäbe zu verlieren.
Dabei ist die mediale Überlagerung kein Zufall, sondern Teil der Kommunikationsstrategie der Hamas. Sie verfolgt ihre Ziele ohne jede Rücksicht auf das Leben und das Leiden der Menschen in Gaza. Umso bedeutsamer ist es, dass die Arabische Liga – erstmals seit dem 7. Oktober – in New York eine Erklärung verabschiedet hat, in der der Hamas-Angriff ausdrücklich verurteilt und ein Ende der politischen und militärischen Macht der Organisation verlangt wird, während die Anerkennung eines palästinensischen Staates den Endpunkt des Friedensprozesses bilden soll. Ausgerechnet in dem Augenblick also, in dem sich die arabischen Staaten der destruktiven Rolle der Hamas zunehmend bewusst werden, scheint sie im Westen mehr und mehr aus dem Blick zu geraten.
Wer diesen Widerspruch anspricht, läuft schnell Gefahr, als gefühllos oder zynisch zu gelten – als ignoriere man das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung. Doch genau darin liegt die eigentliche Falle: Wenn schon die nüchterne Abwägung einer symbolpolitischen Entscheidung wie der bedingungslosen Anerkennung Palästinas als Ausdruck mangelnder Empathie interpretiert wird, ist dies nur ein weiterer Beleg dafür, dass die Debatte moralisch überhitzt und aus dem Gleichgewicht geraten ist.
Das Ziel – ein souveräner, lebensfähiger palästinensischer Staat – bleibt legitim. Auch ein Ende des Krieges ist dringend geboten. Aber keines von beidem wird durch die politische Aufwertung einer Terrororganisation erreicht, die selbst in der arabischen Welt massiv an Rückhalt verliert. Notwendig ist eine Politik, die Anerkennung an Verantwortungsübernahme knüpft – nicht an die Dynamik medialer Bilder oder an die moralische Dringlichkeit des Augenblicks.
Gerade in diesen Tagen braucht es eine Haltung, die Mitgefühl nicht gegen politische Urteilskraft ausspielt. Wer sich für einen gerechten Frieden einsetzt, muss jetzt umso entschiedener gegen jene sprechen, die Gewalt zur Grundlage ihrer Strategie gemacht haben. Wer es ernst meint mit der palästinensischen Sache, darf sie nicht der Hamas überlassen.
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Geschichte und Theorie politischen Denkens an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.
(Eine frühere Fassung erschien zuerst im Deutschlandfunk Kultur.)