Offener Brief

Lieber Herr Bundeskanzler Merz,

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) Foto: picture alliance/dpa

Obwohl es sicher nicht Ihre Absicht war, haben Sie uns beiden den Urlaub verdorben. Und während ich noch immer dabei bin, die Schockstarre zu überwinden, die Sie durch die Entscheidung, Israel keine Waffen mehr für den Krieg gegen die Terrorarmee der Hamas in Gaza liefern zu wollen, ausgelöst haben, haben Sie wohl auch nicht damit gerechnet, welche Wellen diese Erklärung in den eigenen Reihen und darüber hinaus schlägt.

Empörung, Entsetzen, Fassungslosigkeit sind Vokabeln, die in CDU-Zirkeln ebenso kursieren wie in all den politischen und gesellschaftlichen Kreisen, die ihren Verstand auch nach dem 07. Oktober 2023 nicht an der Garderobe der antiisraelischen Zirkusaufführung abgegeben haben, die in der globalen Manege seither immer lauter und obsessiver inszeniert wird.

Bei all denjenigen also, denen es trotz des unaufhörlich und mutwillig aufgewirbelten Staubes der Massen immer noch gelingt, zu unterscheiden. Zwischen Täter und Opfer. Zwischen einem genozidalen Angriff und einem harten, aber notwendigen Verteidigungskrieg.

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Zwischen einer brutalen Terrorarmee, die in der eigenen Zivilbevölkerung eingebettet ist und einem demokratischen Rechtsstaat, der dieser mit von Völker- und Kriegsrecht gefesselten Händen entgegentritt. Zwischen Islamismus, religiösem Judenhass und praktizierter Menschenverachtung auf der einen Seite und der Verteidigung einer liberalen Demokratie und der Werteordnung, die das Wesen des Westens ausmachen, auf der anderen Seite.

Eigentlich sah es so aus, als hätten Sie ihren moralischen Kompass entlang dieser Unterscheidungen ausgerichtet. Und eigentlich haben Sie vor und zu Beginn ihrer Kanzlerschaft die unverbrüchliche Unterstützung Israels als Kern bundesdeutscher Politik - sprich als Staatsraison – wiederholt betont. So haben Sie noch im Januar erklärt: »Was Israel zur Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts benötigt, wird Israel auch bekommen. Der Begriff ›Staatsräson‹ wird sich wieder an Taten und nicht nur an Worten messen. Es muss wieder unmissverständlich klar werden: Deutschland steht nicht zwischen den Stühlen, sondern Deutschland steht fest an der Seite Israels. Daran wird es künftig keinerlei Zweifel mehr geben.«

Starke Worte!

Leider war die Halbwertszeit etwas kurz: gerade mal ein gutes Dreivierteljahr. Mit der jetzigen Entscheidung haben Sie nicht nur ein Versprechen gebrochen - was bei Politikern ja nicht selten vorkommt – sondern Sie haben das wesentliche Fundament des Verhältnisses zwischen dem Post-Nazi-Deutschland und dem Judenstaat angegriffen.

Ist die Sicherheit Israels als Teil deutscher Staatsraison damit Geschichte? Ist sie mit einem Federstrich abgeräumt?

Soweit würde ich nicht gehen. Denn dafür ist sie zu widerstandsfähig. Noch jedenfalls. Aber schweren Schaden hat sie genommen. Und genau das empfinden auch große Teile von CDU/CSU so, weshalb sie zurecht auf die Barrikaden gehen. Denn hier geht es nicht nur um ein gebrochenes Versprechen. Und nicht nur einen politischen Alleingang.

Hier geht es um ein wesentliches Element des christdemokratischen Selbstverständnisses. Und um eine Säule, die mehr und mehr Juden mit der CDU hat sympathisieren lassen. Vor allem, weil alles mit allem zusammenhängt. Und der 7. Oktober und der Krieg gegen die Hamas wie ein Katalysator für den Judenhass gewirkt hat – auch und gerade in Deutschland.

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In diesem Moment sind Bruchlinien sichtbar geworden, Konfrontationslinien, an denen sich nicht nur das Schicksal der Juden entscheidet. Sondern das der westlichen Werteordnung. Also unser aller Zukunft.

Ich weiß, das klingt etwas pathetisch. Aber mit einem unverstellten Blick auf unsere Straßen, die Universitäten, die sozialen Medien, den Kulturbetrieb, die progressive Linke und weite Teile der muslimischen Community sollte eigentlich klar werden, was die Stunde geschlagen hat. Israelhass gerinnt zu Judenhass. Und der Hass auf den Westen manifestiert sich in der Verachtung für die politische Mitte und die liberale Demokratie.

Zugegeben: Nicht jeder erkennt die Bruchlinien. Nicht jeder hat ein Sensorium für die tektonischen Verschiebungen unserer Werteordnung. Und nicht jeder erkennt hinter dem Wind, der so manchen Baum entwurzelt, den aufziehenden Sturm, der den ganzen Wald gefährdet. Aber manche erkennen es eben doch.

Doch zurück: Die Entscheidung, Israel in den Rücken zu fallen, hat in den eigenen Reihen für erheblichen Gegenwind gesorgt. Was Sie eigentlich nicht hätte wundern dürfen. Denn eine solche Entscheidung wurde von SPD, Grünen, Linken und der AFD mehr oder weniger laut gefordert. Alleine diese seltsame Allianz hätte Sie misstrauisch machen müssen. Aber das hat sie nicht, oder?

Am Ende ging es sicher auch um den Koalitionsfrieden. Denn der Druck des Koalitionspartners wurde immer stärker. Und manche Kröte muss man eben schlucken. Auch wenn sie einem am Ende im Hals stecken bleibt. Schließlich war es dann aber - zumindest vordergründig - die Entscheidung der israelischen Regierung, die Offensive im Gazastreifen auszuweiten und ganz Gaza unter Kontrolle zu bringen, die das Fass wohl zum Überlaufen gebracht.

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Wobei Israel erklärt hat, Gaza gar nicht dauerhaft besetzen zu wollen. Sondern den Job zu Ende bringen zu wollen. Sprich: die Hamas in denjenigen Arealen besiegen zu wollen, die sie nach wie vor kontrolliert. Sie also endgültig zu besiegen. Um anschließend ein hamasfreies Gaza, das keine Gefahr für die israelische Bevölkerung mehr darstellt, zum Wiederaufbau in die Verantwortung einer arabischen Allianz zu übergeben. Aber selbst die Entscheidung, sich zunächst nur Gaza-Stadt vorzunehmen, löst bei Ihnen nach jüngsten Aussagen in einem Interview für die ARD die Sorge vor hunderttausenden Opfern aus.

Hunderttausende Opfer? Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie inzwischen auch partiell der Hamas-Propaganda verfallen sind. Anders lässt sich eine solch wirklichkeitsfremde Aussage des deutschen Regierungschefs kaum deuten.

Aber sei es drum: Sie haben in einem eilig versandten Papier an Ihre Vorstandskollegen erklärt, die Offensive oder die Belagerung von Gaza-Stadt berge »erhebliche Risiken für die Sicherheit der Geiseln, die von der Hamas festgehalten werden, darunter auch weiterhin deutsche Staatsangehörige.« Außerdem erschließe sich Ihnen nicht, »wie diese Entscheidung den Israelis und den Palästinensern einem Leben in Frieden und Sicherheit näherbringen soll.«

Lieber Herr Merz: Das muss sich Ihnen auch gar nicht erschließen. Und sie sind damit in guter Gesellschaft zehntausender Israelis, die regelmäßig gegen den Krieg, die Kriegsführung und die strategischen Entscheidungen der Regierung Netanjahu auf die Straße gehen. Gleichwohl: Entscheidungen über die geeignete militärische Strategie, um diesen Krieg zu gewinnen und die Kriegsziele zu erreichen, also die Hamas endgültig zu besiegen und die Geiseln nach Hause zu bringen, - was der Quadratur des Kreises gleicht -, trifft die israelische Regierung, deren primäre Aufgabe es ist, die Sicherheit für ihre Bevölkerung wiederherzustellen und sie auch in Zukunft zu gewährleisten.

Diese Entscheidungen treffen weder die Demonstranten oder die Opposition in Israel noch die Regierungschefs anderer Staaten. Und erst recht nicht diejenigen, die einstmals ihre unbedingte Unterstützung zugesagt haben, ohne diese an bestimmte strategische oder militärische Entscheidungen Israels oder dessen Wohlbetragen zu koppeln.

Die letzten Versuche, eine umfassende Waffenruhe zu verhandeln, sind durch die Weigerung der Hamas gescheitert.

Außerdem sollte folgendes nicht vergessen werden: Die letzten Versuche, eine umfassende Waffenruhe zu verhandeln und die Geiseln freizubekommen, sind durch die Weigerung der Hamas gescheitert. Durch die Hamas! Nicht durch Israel! Vor allem aber hat sich die Terrororganisation just in dem Moment aus den Verhandlungen verabschiedet, in dem Ihr französischer Amtskollege Macron die Anerkennung eines palästinensischen Staates ankündigte.

Es ist das Paradebeispiel eines schlechten Anreizes. Und für eine politische Fehlleistung sondergleichen. Und es ist ein Muster, dass sich im Lauf der Geschichte immer und immer wiederholt hat. Wenn man dem Terror nicht gemeinsam die Stirn bietet, dann verliert man. Wenn die gemeinsame Entschlossenheit Risse bekommt, nutzen die fundamentalistischen Islamisten dies gnadenlos aus. Und wenn man die Reihen nicht geschlossen hält, wird man von den menschenverachtenden Ideologen des Hasses überwältigt.

Das bedeutet gleichzeitig: Wenn es Ihnen wirklich um Frieden, um Sicherheit für Israelis und Palästinenser sowie um das Wohl der Geiseln geht, dann wäre der richtige Adressat für Kritik, Forderungen und Sanktionen die Hamas. Denn diese weigert sich, die Waffen niederzulegen. Diese nutzt das Leid der Zivilbevölkerung für ihren teuflischen Plan. Diese will maximalen Tod und Zerstörung für ihre Propaganda gegen Israel und die Juden. Diese hält die Geiseln gefangen. Diese misshandelt sie. Diese hungert sie aus. Und diese hat es in der Hand, sie freizulassen und dem Krieg damit ein Ende zu setzen.

Nun aber Israel dafür zu bestrafen, dass es sich militärisch nicht in Ketten legen lässt und das aufgrund der zahlreichen blutigen Erfahrungen mit dem islamistischen Terror und den brutalen Angriffen auf Land, Souveränität und  Zivilbevölkerung eine andere Strategie verfolgt, um die Terrorarmee der Hamas zu bezwingen, ist eine seltsame Form unverbrüchlicher Solidarität. Oder um es deutlicher zu sagen: Es ist eine Form des Verrats!

Herr Merz, Sie machen also tatsächlich Israels Vorgehen in Gaza für unsere innenpolitischen Konflikte verantwortlich?

Aber es gibt laut Ihrer jüngsten Verlautbarung ja noch andere Gründe für das Abrücken von ihrem Verbündeten. Und einer davon ist - vorsichtig ausgedrückt - skandalös. Denn er greift die innenpolitische Lage in Deutschland und Europa auf und präsentiert im selben Zug den Hauptverantwortlichen. Dort heißt es: »Diese Eskalation trägt auch zur Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte in Deutschland und Europa bei, die wir auch im Sinne unserer Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel vermeiden müssen.«

Sie machen also tatsächlich Israels Vorgehen in Gaza für unsere innenpolitischen Konflikte verantwortlich? Nicht die Hamas? Nicht die Terrorunterstützer? Nicht die radikale Linke? Nicht die islamistischen Aufwiegler? Nicht die Öl-ins-Feuer-Gießer? Nicht die Antisemitismus-Multiplikatoren?

Nein?

Sondern einzig und alleine Israel?

Wahrscheinlich glauben Sie das selbst nicht. Jedenfalls will ich nicht glauben, dass Sie das glauben! Aber die Verfasser Ihrer Erklärung, also der Erklärung, die ihre ursprüngliche Erklärung des Waffenstopps und der damit einhergehenden 180-Grad-Wende erklärt, haben genau das getan. Sie haben Israel verantwortlich gemacht. Für das, was in Gaza passiert. Für das, was in Europa passiert. Für das, was hier in Deutschland passiert. Und wenn man es weiterdenkt auch für den Antisemitismus als solchen.

Die Juden sind eben an allem schuld! Auch daran, dass man sie hasst!

Damit ist man erstens einer der ältesten antisemitischen Erzählungen auf den Leim gegangen. Und übersieht zweitens die wahre Quelle des Hasses. Und diese sprudelt ohne Unterlass. Und wenn sie mit den Juden erstmal fertig ist, wird sie sich andere Opfer suchen. Denn wir Juden sind nur die Vorhut, die als erste dran glauben muss. Und die Seismografen, für die nahenden gesellschaftlichen Erschütterungen.

Ich hoffe, dass Sie auf all die empörten, entsetzten und fassungslosen Stimmen in ihrem Umfeld hören.

Rabbiner Jonathan Sacks sagte einmal: »Der Hass, der mit den Juden beginnt, endet nicht mit den Juden.« Und einen Vorgeschmack haben wir schon längst erhalten.

Ich hoffe deshalb, dass Sie auf all die empörten, entsetzten und fassungslosen Stimmen in ihrem Umfeld hören. Auf die Aufrechten. Die Prinzipientreuen. Die Widerständler. Denn sie spüren die tektonischen Verschiebungen. Sie fühlen den Sturm kommen. Und sie sehen den Wald hinter den Bäumen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: Einsicht, Selbstkritik, Umkehr und einen schönen Resturlaub!

Der Autor ist Jurist und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

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