Meinung

Für mich ist es Nowy God – und warum ich ihn feiere

Jan Feldmann Foto: Andreas Wenzel

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Für mich ist es Nowy God – und warum ich ihn feiere

Das Neujahrsfest hat mit dem Judentum eigentlich nichts zu tun. Trotzdem habe ich warme Erinnerungen an diesen säkularen Feiertag

von Jan Feldmann  30.12.2025 13:15 Uhr

Jeder, der ebenfalls einen sowjetischen Hintergrund hat, kennt dieses Gefühl: Die beiden Worte Nowy God tragen eine Nostalgie und Wärme in sich, die schwer zu übersetzen ist. Wörtlich bedeuten sie schlicht »Neues Jahr«. Emotional aber stehen sie für eine eigene Welt aus Gerüchen, Ritualen, Stimmen, Musik und Erinnerung.

Ich komme aus einer traditionellen jüdischen Familie, in der alle jüdischen Feiertage gefeiert wurden. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr lebte ich in Usbekistan, in Taschkent. Und dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – gehört der geschmückte Tannenbaum untrennbar zu meiner Kindheit. Er war kein religiöses Symbol, sondern fester Bestandteil eines Feiertags, der in der offiziell strikt nicht-religiösen Sowjetunion fast etwas Sakrales hatte.

Nowy God war dort ein beinahe heiliger Tag – ohne Gebet, aber mit klaren Ritualen. Der Tannenbaum, Ded Moroz, der sowjetische Weihnachtsmann, meist in Blau gekleidet, später verdrängt vom roten Coca-Cola-Santa der 1990er-Jahre. Und vor allem: der Tisch. Reich gedeckt, übervoll, mit einer fast zeremoniellen Ordnung.

Kholodez – eine kalte Fleischsülze im Aspik, die Stunden, manchmal Tage Vorbereitung brauchte. Selyodka pod shuboi – Hering »im Pelzmantel« aus Roter Bete, Kartoffeln und Mayonnaise. Olivier-Salat, Vinaigrette, Brot mit Butter und rotem Kaviar, dazu die Napoleon-Torte. Diese Speisen waren nicht beiläufig. Sie hatten ihren festen Platz – so gesetzt wie die Ordnung des Sedertellers an Pessach.

Der 31. Dezember folgte einer festen Dramaturgie. Am Vormittag liefen im Fernsehen jedes Jahr dieselben Neujahrsfilme. Gegen Abend – unausweichlich – »Ironiya sudby, ili s legkim parom« (»Ironie des Schicksals oder mit leichtem Dampf«), ein Film, der zu Nowy God gehört wie das Schofar zu Rosch Haschana. Danach kamen die Gäste: Tanten, Onkel, Freunde. Es wurde laut, gelacht, getanzt und gegessen. Man diskutierte über Auswanderung – Israel, Deutschland, USA. Dann Musik, dann die Neujahrsansprache. In Taschkent zeigte das Fernsehen zuerst Bilder der Stadt, dann den Präsidenten, dann die große Uhr, Feuerwerk. Champagner. Umarmungen. Küsse. Wünsche.

Es sind sehr warme Erinnerungen. Und ich will sie mir nicht nehmen lassen.

In Deutschland habe ich gelernt, dass Tannenbaum und Weihnachtsmann eine christliche Bedeutung haben. Aber für mich war Nowy God nie Weihnachten, nie Silvester. Er war ein Teil meiner Kindheit. Ein Teil meiner Identität. Ein säkularer Feiertag, der Gemeinschaft schuf.

Deshalb feiere ich ihn weiter. Auch als traditioneller Jude. So wie man an Rosch Haschana Bilanz zieht, tue ich es auch an Nowy God. Vielleicht ist es sogar sinnvoll, mehr als nur einen Jahresanfang zu haben. 

Im Judentum gibt es mehrere: Bereits die Mischna spricht von vier Neujahren, die jeweils unterschiedliche Funktionen haben.

Da ist Rosch Haschana am 1. Tischri – das spirituelle Neujahr, der Beginn der Jahre seit der Schöpfung.

Es gibt Rosch Chodashim am 1. Nissan – das Neujahr der Monate, der Könige und der Feste, mit dem die Tora-Zeitrechnung beginnt. Der 1. Elul gilt als Neujahr für die Viehzählung. Tu biSchwat, das Neujahr der Bäume, das heute als Fest der Erneuerung gefeiert wird.

Und für mich gibt es – daneben – auch dieses eine, sowjetische Neujahr. 

Und vielleicht passt zum Schluss auch ein Satz, der in diesen Tagen oft gesagt wird, ohne dass man über seinen Ursprung nachdenkt: »Guten Rutsch.«

Er geht wahrscheinlich nicht auf das »Rutschen« ins neue Jahr zurück, sondern auf das Jiddische – auf »a gutn Rosch«, einen guten Anfang, einen guten Jahresbeginn, von Rosch Haschana her gedacht. 

Ein jüdischer Neujahres-Gruß, der seinen Weg in die Alltagssprache gefunden hat.

In diesem Sinne: Guten Rosch!

feldmann@juedische-allgemeine.de

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