In Deutschland hat der Diskurs über die finanzielle Unterstützung ukrainischer Geflüchteter eine neue Härte angenommen. Der unmittelbare Grund ist, dass die Ukraine die Ausreisebeschränkungen für junge Männer aufgehoben hat und nun mehr von ihnen zu uns kommen. Doch als Teil der jüdischen Gemeinschaft und der deutschen Zivilgesellschaft will ich nicht hinnehmen, dass die Hilfe für sie infrage gestellt wird.
Wenn ich an den 24. Februar 2022 denke, spüre ich immer noch die Anspannung, die Verzweiflung und die Angst in meinem Körper. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits Geschäftsführerin von »Hillel Deutschland«, einer Organisation für junge Jüdinnen und Juden. Einer meiner Kollegen saß in Dnipro fest; ukrainische Hillel-Studenten waren auf dem Weg nach Berlin und brauchten Unterstützung; und eine Gruppe nigerianischer Studenten suchte bei uns Schutz, als niemand sonst sie aufnehmen wollte. Hier in Deutschland hatten wir zudem unsere eigenen Studenten und jungen Erwachsenen mit familiären Bindungen zur Ukraine, die sich um nahe Verwandte in schwer betroffenen Orten wie Cherson sorgten, ohne viel für sie tun zu können.
Judesein bedeutet laut Rabbi Jonathan Sacks, »einen Unterschied zu machen«.
Ich kann die Bedenken hinsichtlich der finanziellen Belastung Deutschlands nachvollziehen. Aber der Krieg in der Ukraine dauert noch an, und die ukrainische Gemeinschaft braucht jede Unterstützung, um nach ihrem Trauma, der Trennung von Familie und Freunden und dem vollständigen Bruch des Alltags ihr Leben wiederaufzubauen. Während ich dies schreibe, hat eine liebe Freundin Deutschland verlassen, um vorübergehend in ihre Heimat Odessa zurückzukehren, wo sie anhaltendem Raketenbeschuss ausgesetzt ist. Sie will ihrer Mutter helfen, die mit einer schweren Krankheit zu kämpfen hat und die benötigte medizinische Versorgung nicht erhalten kann. Eine Lösung dieses Konflikts ist noch lange nicht in Sicht.
Als Jüdinnen und Juden mit tiefen Wurzeln in der Region haben wir miterlebt, wie sich unsere eigenen Gemeinschaften verändert, erweitert und an den Zustrom ukrainischer Geflüchteter angepasst haben. Dieser Prozess war keineswegs einfach, aber wir haben unsere einzigartigen Fähigkeiten einzusetzen gelernt. Lord Rabbi Jonathan Sacks, dessen Jahrzeit wir vergangene Woche begingen, lehrte schon in den frühen Tagen seines Rabbinats, dass »jüdische Sensibilität« und Judesein bedeutet, »gebeten zu werden zu geben, beizutragen, einen Unterschied zu machen«. Auch wenn wir weltweit zahlenmäßig wenige sein mögen, liegt unsere Stärke in unserem Verantwortungsgefühl gegenüber anderen, denn wir wissen intuitiv, dass diese Haltung die Welt zu einem besseren Ort macht.
Ich kann bezeugen, dass in den frühen Tagen der russischen Invasion der Akt des Helfens so vielen unserer Hillel-Mitglieder einen Sinn gab. Die Verpflichtung, anderen zu helfen, half uns, Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Angst zu überwinden. Wenn unsere Gemeinschaft, die so klein im Vergleich zur gesamten deutschen Gesellschaft ist, die Kraft hat, weiterhin ukrainische Menschen in Not willkommen zu heißen und zu unterstützen, dann kann dieses Land dasselbe tun – und sollte es auch.
Die Autorin ist Geschäftsführerin von Hillel Deutschland und Rabbinerin in Berlin.