»People Love Dead Jews«. Das ist nicht nur der Titel eines großartigen Buches der amerikanischen Autorin Dara Horn. Sondern es ist auch eine Wahrheit, vor der viele die Augen verschließen. Dabei ist es durchaus verständlich. Denn die toten Juden sind umgänglicher und verträglicher. Nicht so streitbar oder nervtötend. Nicht ambivalent oder moralisch herausfordernd. Also einfach viel leichter handzuhaben.
Sicher: Sie sind eine konstante Erinnerung an das moralische, gesellschaftliche und menschliche Totalversagen einer ganzen Generation. Aber davon kann man sich leicht distanzieren. Ist ja lange her. Und Schuld ist bekanntlich individuell. Damit ist die eigene Weste blütenrein und es lebt sich ziemlich unbeschwert.
Mehr noch: An den toten Juden kann man seine eigene Aufrichtigkeit zelebrieren. Seine moralische Erhabenheit demonstrieren. Und sich selbst auf der richtigen Seite der Geschichte verorten. Und zwar ohne Risiko oder Konsequenz. Was kann es Schöneres geben? Kein Wunder, dass deshalb auch tote Juden immer mal wieder missbraucht werden. Um auf ihrem Rücken Karriere zu machen. Oder um Aufmerksamkeit zu erlangen. Oder um moralische Unanfechtbarkeit zu erreichen.
Die kleine Anne als Pro-Pali-Ikone. Als Arafats Erbin. Als Symbol für den Kampf gegen Unterdrückung, Unfreiheit und Gewalt.
Diesmal – und nicht zum ersten Mal – musste Anne Frank herhalten, deren tragische Geschichte durch ihr Tagebuch weltbekannt wurde. Jüngst wurde sie in einer »israelkritischen« Kunstausstellung namens »Comune – Das Paradox der Ähnlichkeit im Nahostkonflikt« des selbsternannten Marxisten Costantino Ciervo in Potsdam ausgestellt. Mit einer Kufiya um die Schultern. Die kleine Anne als Pro-Pali-Ikone. Als Arafats Erbin. Als Symbol für den Kampf gegen Unterdrückung, Unfreiheit und Gewalt.
Diese Perversion führte – Überraschung! – zu Protesten des brandenburgischen Antisemitismusbeauftragten und des Vorsitzenden der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Sie betrachten das Bild als antisemitisch und forderten dessen Entfernung, was Künstler und Aussteller notabene brüsk von sich wiesen.
Stattdessen hat Ciervo neben dem Bild einen Text angebracht. Darin heißt es: »Ihr Andenken, als Zeugin des Holocaust, steht nicht nur für die Erinnerung an die Schoa, sondern wird zum universellen Symbol der Verurteilung von Gewalt. In meinem Gemälde soll diese Figur eine moralische Stimme verkörpern«.
Um es mit dem Philosophen Harry Frankfurt zu sagen: Das ist »Bullshit!« Was hier tatsächlich geschieht, ist der gnadenlose Missbrauch eines jüdischen Mädchens, um eine antijüdische Erzählung zu speisen. Es ist die allgegenwärtige Universalisierung einer spezifisch jüdischen Vernichtungserfahrung, um die eigenen antiisraelischen Botschaften zu rechtfertigen. Und es ist die perverse Instrumentalisierung jüdischen Leidens zur Delegitimierung jüdischer Selbstbehauptung.
Ob das nun antisemitisch ist oder nicht, ist zweitrangig. Denn die Botschaft ändert dies ebenso wenig wie die Einstellung der Besucher. Entscheidend ist etwas anderes: Anne Frank darf in dieser Version nur existieren, weil man ihr das Jüdische, das Konkrete, das Politische genommen hat. Sie wird zu einer Waffe in den Händen ihrer moralischen Plünderer. Zu einem Symbol, welches das Gegenteil dessen ist, für das stolze Juden heute stehen.
Man liebt tote Juden, weil sie nichts fordern, nicht widersprechen, keinen Anspruch auf Selbstbehauptung erheben.
Genau darin liegt der Kern. Man liebt tote Juden, weil sie nichts fordern, nicht widersprechen, keinen Anspruch auf Selbstbehauptung erheben. Und weil sie sich ihres moralischen Missbrauchs nicht erwehren können. Es geht deshalb nicht um Kunstfreiheit, sondern um antiisraelische gleich antizionistische gleich antijüdische Deutungshoheit.
Anne Frank wird deshalb umcodiert: Aus einem jüdischen Opfer wird eine universelle Mahnfigur, die heute vor allem eines leisten soll – die moralische Anklage Israels. Und das ist kein Missverständnis, sondern ein Muster. Ein Glück, dass Anne Frank tot ist und das nicht mehr miterleben muss.
Der Autor ist Jurist und Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.