Meinung

»Demokratie leben« braucht eine Inventur

Lennart Pfahler Foto: HC Plambeck / WELT

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»Demokratie leben« braucht eine Inventur

Die Idee hinter dem Förderprogramm des Bundes mag gut sein, die Umsetzung ist es nicht. Viel zu oft profitieren Extremisten und Israelhasser von den öffentlichen Geldern

von Lennart Pfahler  08.07.2025 14:26 Uhr

Die Demokratie steht unter Druck – von allen Seiten. Dass der Bund Projekte fördert, die demokratische Bildung und gesellschaftliche Teilhabe unterstützen, ist daher zunächst eine gute Nachricht. Doch ausgerechnet mit ihrem größten und wichtigsten Förderprogramm, der Initiative »Demokratie leben«, hat sich die Bundesregierung völlig verrannt.

Unter dem Deckmantel des Einsatzes für Vielfalt sicherten sich in den vergangenen Jahren zahlreiche Akteure Millionen an Förderung, die selbst mit radikalen Positionen und schamlosem Antisemitismus auffallen.

Die Beispiele muten geradezu grotesk an. Die Initiatorin eines angeblichen Empowerment-Projektes in Berlin verklärte den Hamas-Terror als »Widerstand gegen Kolonialismus«. Eine Beraterin des Projektträgers bezeichnete Juden als Schweine. Ein Vorstandsmitglied eines anderen Mittelempfängers bezeichnete Zionisten als Krankheit, Deutschland als »zum Judenstaat« verkommen.

Mit der Aufgabe, Muslime von einer Radikalisierung abzubringen, betraute das Familienministerium ausgerechnet Organisationen, die selbst dem politischen Islam nahestehen. Der Gründer eines dieser Vereine, ein Anhänger der Milli-Görüs-Bewegung, verbreitete bei Facebook kürzlich eine vielsagende Verschwörungstheorie: »Unter dem ›BlackRock‹-Mann Merz wird unsere Außenpolitik weiter von den USA und Israel diktiert. Weil Deutschland ein Vasallenstaat ist.« Ein Vasallenstaat, dessen finanzielle Zuwendungen man offensichtlich gerne mitnimmt.

Selbst Profiteure des bisherigen Systems sagen hinter vorgehaltener Hand: Es funktioniert nicht.

Kritiker warnen, es gebe keine Kontrolle darüber, was genau mit dem Fördergeld von »Demokratie leben« eigentlich passiere. Das ist auf eine Art falsch. Tatsächlich existiert ein großer Beamtenapparat, der jede einzelne Kopier-Rechnung prüft und Geld zurückfordert, wenn ein Projektträger keine drei Angebote für die Erstellung einer Papierbroschüre eingeholt hat. Viele emsige Initiativen, die oft unbequeme Basisarbeit leisten, ächzen ob des bürokratischen Rattenschwanzes, der mit dem Förderbescheid verbunden ist.

Was dagegen völlig zu fehlen scheint, ist eine kohärente inhaltliche Steuerung. Mit naivem Gutglauben verteilt das Familienministerium Zuschüsse an Projekte, die in ihren Anträgen die richtigen Buzzwörter einzusetzen wissen. Eine Strategie, was erreicht werden soll und wie, sucht man auch nach mehr als zehn Jahren »Demokratie leben« vergeblich. Selbst Profiteure des bisherigen Systems sagen hinter vorgehaltener Hand: Es funktioniert nicht. Die Mitte erodiert weiter, die politischen Ränder haben ihren Zulauf potenziert.

Und die Demokratiefeinde profitieren vom Förder-Dilettantismus gleich doppelt. Die einen bekommen argumentative Munition, um einen Stopp aller Zahlungen an zivilgesellschaftliche Initiativen zu fordern. Andere – wie die Milli-Görüs-Bewegung – machen sich selbst an Fördertöpfe ran. Das kann nicht im Sinne der Demokraten sein. Nur eines kann »Demokratie leben« retten: eine schonungslose Inventur.

Der Autor ist Investigativjournalist bei der »Welt«.

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