Wer sich mit der Geschichte des Judenhasses beschäftigt, begegnet über kurz oder lang der Ritualmordlegende. Also der im Jahr 1144 in Norwich, England, erstmals aufgetauchten Lüge, wonach die Juden ein unschuldiges christliches Kind ermordet hätten, um dessen Blut für rituelle Zwecke zu nutzen. Lügen, Verleumdungen und Legenden dieser Art führten in der Geschichte immer wieder zu Verfolgungen, Pogromen und Morden an der unschuldigen jüdischen Bevölkerung.
Und dem aufgeklärten Beobachter stellt sich unwillkürlich die Frage, wie so etwas möglich war. Wie eine bare Lüge die Köpfe der Menschen so rasant infizieren konnte. Wie sie lodernden Hass schüren konnte. Wie sie sich im Handumdrehen zu einer Massenhysterie entwickeln konnte. Und sich letztlich in Gewalt gegen und den Mord an Juden übersetzen konnte.
Die Ritualmordlegende ist eine der ältesten und tödlichsten antijüdischen Verleumdungen. Aber tot ist sie noch lange nicht. Ganz im Gegenteil. Auch wenn es inzwischen meist Israel oder die Zionisten sind, denen die brutalsten, menschenfeindlichsten und niederträchtigsten Schandtaten nachgesagt werden. So wie am 17. Oktober 2023 als Israel beschuldigt wurde, eine Rakete auf das Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza gefeuert und dabei 500 Menschen ermordet zu haben.
Die Nachricht verbreitete sich schon Minuten später wie ein Lauffeuer um die ganze Welt. Und allerorten empörte man sich über Israels brutale Kriegsführung. Bis sich kurze Zeit später herausstellte, dass die Rakete erstens nicht von den Israelis abgefeuert wurde, sondern eine fehlgeleitete Rakete der Terrororganisation Islamischer Dschihad war, zweitens das tödliche Geschoss nicht das Krankenhaus getroffen hat, sondern den Parkplatz und drittens keine 500 Menschen zu Tode kamen, sondern maximal 50.
Die Botschaft hatte ihre willigen Empfänger längst erreicht
Doch das interessierte kaum mehr jemanden. Denn die Botschaft hatte ihre willigen Empfänger längst erreicht. Und bestätigte nur, was ohnehin jeder wusste. Die Ausgeburt des Bösen hat einen Namen: Israel!
Das Maß an Desinformation und Terrorpropaganda der Hamas und ihrer Unterstützer ist dabei nicht weniger erschütternd als die oft unsaubere, unkritische und kenntnislose oder gar gezielte, manipulative und dämonisierende Berichterstattung von Zeitungsverlagen und Fernsehsendern. Von den sozialen Medien ganz zu schweigen.
Will heißen: mal lassen sich die Journalisten, Politiker, Influencer und Meinungsmacher aus Naivität und Dummheit vor den Karren voller Israelhass spannen und mal tun sie es ganz bewusst und in voller Absicht. Und in beiden Fällen gießen sie Öl in das antisemitische Feuer. Und schüren damit einen Brand, der ohnehin längst außer Kontrolle geraten ist.
Das jüngste Beispiel ist die Aussage eines hochrangigen UN-Sekretärs, der erklärt hatte, dass in Gaza 14.000 Babys innerhalb von 48 Stunden sterben würden, wenn die Hilfslieferungen sie nicht erreichen würden. Am 20. Mai 2025 hatte der UN-Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten Tom Fletcher in einem Radiointerview der britischen BBC über die humanitäre Situation im Gazastreifen unter anderem gesagt: »Es gibt 14.000 Babys, die in den kommenden 48 Stunden sterben werden, es sei denn, wir können sie erreichen. Ich möchte so viele wie möglich von diesen 14.000 Babys in den nächsten 48 Stunden retten.« Will heißen: Israel wird in spätestens 48 Stunden das Blut von 14.000 Babys an den Händen haben. Ein monströser Kindermord, der durch nichts zu rechtfertigen ist.
Das Problem war allerdings: Die Behauptung des UN-Sekretärs war falsch.
Zwar folgte am darauffolgenden Tag die Richtigstellung des Senders, dass die viel zitierte Aussage auf der Fehlinterpretation eines Berichts zur UN-Skala »Integrierte Klassifizierung der Ernährungssicherheitsphasen« (IPC) beruhe und dass es sich um ein mögliches und keineswegs zwingendes Szenario in dem Betrachtungszeitraum eines Jahres handele. Mit anderen Worten: weder sterben 14.000 Babys, noch tun sie das innerhalb der nächsten zwei Tage, noch ist an der Nachricht irgendetwas Wahres dran. Doch da war es schon zu spät.
Die Mechanismen sind uralt
Denn längst hatten die großen Zeitungen und Rundfunkanstalten die Nachricht aufgegriffen. Und die Influencer und Israelhasser im Netz taten alles, um die dämonisierende Lüge auf allen Kanälen und mit allen Mitteln zu verbreiten. Der Ausbruch an Wut und Hass, der sich in den Kommentarspalten, den Reels und den sonstigen Kanälen Bahn brach, war schockierend. Und war es auch wieder nicht. Denn die Mechanismen sind uralt. Die Strategien sind bekannt. Und der antisemitische Hass wartet nur auf die passende Gelegenheit, entfesselt zu werden.
Es ist die Wiederkehr der Ritualmordlegende. Die infame Verleumdung, die einst direkt auf die Juden zielte und die heute meist den Umweg über den jüdischen Staat nimmt und auf Israel zielt. Und sie verfängt nur deswegen so einfach, so schnell, so geschmeidig, weil der Boden seit langem bereitet wurde. Und weil die Multiplikatoren des Hasses Spalier stehen, um die dämonisierende, antiisraelische ergo antisemitische Maschinerie ein ums andere Mal anzuwerfen. Sie wähnen sich dabei auf der richtigen Seite der Geschichte. Sehen sich im Kampf für das Gute. Und glauben, dass nur eines der Gerechtigkeit, dem Frieden, ja der Erlösung im Weg steht: Israel. Der Judenstaat. Das jüdische Kollektiv. Oder der kollektive Jude. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch, schrieb Bertolt Brecht einst. Uralt und immer noch fruchtbar, möchte man ergänzen. Denn die Ritualmordlegende lebt nach wie vor. Und wohin sie am Ende führt, wissen wir nur allzu gut. Hoffen wir, dass es genug Aufrechte gibt, die dabei helfen, aus der Geschichte auszubrechen.
Der Autor ist Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.