Zentralrat

»Wir wollten nicht mehr so sein wie Juden in der Diaspora«

Jugendbewegt: Doron Kiesel (l.) und Teilnehmer der Podiumsdiskussion

Doron Kiesel kennt seine Prägungen. »Ich war ein Kind der ZJD, der Zionistischen Jugend in Deutschland«, sagt der Wissenschaftliche Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland. Auch Micha Brumlik war als Jugendlicher dort aktiv. Die 1959 gegründete ZJD bezeichnet der Erziehungswissenschaftler als einen letzten Spross der deutsch-jüdischen Jugendbewegungen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen junge Menschen, sich gegen die bürgerlich-autoritäre Enge der wilhelminischen Gesellschaft aufzulehnen. Sie wanderten, sangen Lieder, tanzten und feierten die Gemeinschaft. Vor allem in der Zwischenkriegszeit waren auch jüdische Gruppen Teil der deutschen und europäi­schen Jugendbewegung. Ihr Einfluss auf die emotionale und politische Bildung jüdischer Jugendlicher in Deutschland und Israel stand im Fokus einer Konferenz, die die Bildungsabteilung vom 5. bis 7. Juni in Frankfurt ausrichtete.

Autobiografisches »Wir versuchen, die Komplexität einer Epoche zu beschreiben«, sagte Doron Kiesel zur Eröffnung der Konferenz. Nicht nur wissenschaftliche Vorträge sollten dazu beitragen. Auch subjektive, autobiografische Zugänge standen auf dem Programm. So trug die Berliner Schriftstellerin Ulrike Kolb am Mittwochabend Gespräche mit Gründern des Kibbuz Hazorea vor. Der 1936 gegründete, im Norden Israels liegende Kibbuz geht auf Mitglieder der jüdischen Jugendorganisation »Werkleute« zurück. Der Schweizer Urs Faes las aus seinem Buch über die Hachschara-Bewegung vor, die jungen europäischen Juden landwirtschaftliche Fähigkeiten vermittelte, um sie auf das Leben in den Kibbuzim vorzubereiten.

Der Bogen spannte sich vom 19. Jahrhundert über die 60er-Jahre bis zur Gegenwart.

Der zweite Konferenztag begann mit einem persönlich gefärbten Vortrag von Micha Brumlik. Der Bochumer Erziehungswissenschaftler Thomas Eppenstein las den Text vor, da Brumlik aus gesundheitlichen Gründen nicht nach Frankfurt kommen konnte. In seinem Vortrag blickte Brumlik auf die 50er- und 60er-Jahre zurück. Die in Westdeutschland gebliebenen Juden lebten, so Brumlik, »unter einem bedrückenden Gefühl von Scham und Schuld«. In dieser Atmosphäre wurde die ZJD gegründet. Sie wollte jüdische Jugendliche zur Auswanderung nach Israel bewegen. Micha Brumlik beschreibt die ZJD als Rettung, die es ihm ermöglichte, in der jugendlichen Gruppe die Zeitumstände zu bewältigen. Doron Kiesel spricht von einem »emotionalen Anker«. »Wir wollten nicht mehr so sein wie die Diasporajuden«, erläutert er die Haltung seiner Generation.

Madrich Mehrere Workshops boten am Donnerstagnachmittag Gelegenheit, die Konferenzthemen im gemeinsamen Gespräch zu vertiefen. Auf großes Interesse stieß das Angebot von Yaakov Snir. Der Jerusalemer Historiker sprach über die ZJD, für die er einst als Madrich tätig war. Pava Raibstein stellte die »Kinder- und Jugendaliyah« vor. Die in Berlin gegründete Organisation rettete in der NS-Zeit etwa 5000 jüdische Kinder und Jugendliche. Sie fanden Zuflucht im damaligen Palästina. Die Frankfurter Historikerin Maria Coors referierte über Wilna. Die zwischen den Weltkriegen zu Polen gehörende Stadt sei eine jüdische Metropole gewesen. Einige Workshop-Teilnehmer brachten biografische Bezüge ein, da ihre Eltern zur Jugendbewegung in Wilna gehörten.

Kontraste boten die Vorträge des zweiten Konferenzabends. Yaakov Snir sprach über die in Galizien gegründete linkszionistische Jugendorganisation Hashomer Hatzair. Die Bewegung habe 85 Kibbuzim in Israel gegründet, sagte Snir. Er hob ihre Bedeutung für den Aufbau des jüdischen Staates hervor. Viele Ehemalige seien bis heute in wichtigen Positionen aktiv. »Die Bewegung lebt – und wie«, resümierte Yaakov Snir.

Beitar Dagegen sei Beitar, die Jugendbewegung der äußersten zionistischen Rechten, unbedeutend geworden, sagte Hans Jakob Ginsburg. In einem eloquenten Parforceritt schilderte der Journalist die Geschichte der zuerst maßgeblich in Polen aktiven Organisation. Beitar sei vom europäischen Nationalismus beeinflusst gewesen, führte er aus. Als bedeutende Figur der rechtszionistischen Bewegung stellte er den in Odessa geborenen Schriftsteller Wladimir Zeev Jabotinsky vor.

In den 20er-Jahren gründete Jabotinsky die Revisionistische Partei. Im Unterschied zu den faschistischen Parteien Europas seien die Revisionisten »ein Debattierklub« gewesen, merkte Ginsburg an. Er ging auch auf Menachem Begin ein, der gegen seinen Mentor Jabotinsky innerhalb der Bewegung gelegentlich opponierte. Den späteren israelischen Ministerpräsidenten beschrieb Ginsburg als »Jabotinskys Nemesis«.

Marat Schlafstein mahnte an, »junges jüdisches Leben innerhalb der Gemeinden zu erhalten, zu fördern und zu fordern«.

Zugehörigkeit Am Freitag nahm die Konferenz die Gegenwart in den Blick. Unter dem Motto »Vom Lagerfeuer zur Jewrovision« diskutierten Studenten und junge Erwachsene aktuelle Themen und Perspektiven jüdischer Jugendarbeit. Es wurde deutlich, wie prägend solche Angebote sind. »Das Jugendzentrum war mein zweites Zuhause«, erinnert sich etwa Marat Schlafstein, Referent für Jugend und Gemeinden im Zentralrat der Juden in Deutschland. Jugendzentren seien, sagt Schlafstein, ein »safe space« für junge Juden. Der Berliner Jurastudent Lars Umanski verbindet mit der jüdischen Jugendarbeit »Identität und Gemeinschaft«, ZWST-Jugendreferent Nachumi Rosenblatt spricht von »Zugehörigkeit«.

Zur Einbindung junger Menschen in das Gemeindeleben waren kritische Töne zu hören. Marat Schlafstein mahnte an, »junges jüdisches Leben innerhalb der Gemeinden zu erhalten, zu fördern und zu fordern«. Es brauche dort eine »Willkommenskultur« für junge Menschen. Die Gemeinden müssten sich für die sexuelle Vielfalt der Menschen öffnen, forderte die Berliner Lehramtsstudentin Anna Staroselski. Den Umgang mit sexuellen Minderheiten benannte auch Lars Umanski als wichtiges Thema für die jüdische Jugendarbeit.

Die Diskussion habe ihr einen breiten Einblick ins Gemeindeleben ermöglicht, resümiert anschließend eine Konferenzteilnehmerin. Sie schätze die Veranstaltungen der Bildungsabteilung. Dort treffe man Juden aus ganz Deutschland, sagt sie. »Diese Tagungen sind ein toller Begegnungsraum.«

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