Philosophie

»Wir sind Gewordene«

»Zu oft vergessen wir, dass wir alle historische Wesen sind. Wir sind nicht nur jetzt oder nur morgen. Wir sind vor allem gestern«: Mirna Funk Foto: Astrid Schmidhuber

Wie es das Schicksal wollte, war Mirna Funk am Vorabend des Internationalen Frauentags zu Gast im Jüdischen Gemeindezentrum. Anlass war nicht ihr Buch Who Cares! Von der Freiheit, Frau zu sein, aus dem man erfährt, wie sie zu der Persönlichkeit wurde, die sie heute ist: belesen und ausdrucksgewandt, diszipliniert und fleißig. Die sich und ihre inzwischen achtjährige Tochter als alleinerziehende Mutter sicher durchs Leben lotst.

Anlass war vielmehr ihr jüngstes Buch Von Juden lernen, entstanden infolge ihrer Beschäftigung mit jüdisch-theologischen Fragen. Das wiederum hing mit ihrer Statusanerkennung zusammen, die im Herbst 2021 ihre vaterjüdische Herkunft in eine voll anerkannte umwandelte.

Mirna Funk war im Rahmen der Woche der Brüderlichkeit nach München eingeladen worden, zu der das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern gleich dreimal – ohne explizit den Begriff zu benutzen – Frauenpower präsentierte: mit IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch und Moderatorin Shahrzad Eden Osterer bei einem Gesprächsabend mit dem Publizisten C. Bernd Sucher über die für Juden unsicher gewordene Heimat Deutschland, mit der Schauspielerin und Performerin Lea Kalisch und eben mit Mirna Funk.

Schon der Titel ihres kleinen, doch inhaltsmächtigen Buches Von Juden lernen berge eine Chuzpe, eröffnete Gesprächspartnerin Ellen Presser das folgende kurzweilige Zwiegespräch mit der 1981 in Ost-Berlin geborenen Autorin. Habe die Menschheit nicht schon genug davon bekommen mit Jesus, Marx und Sigmund Freund?

Mirna Funk fing den Ball auf. Sie hatte acht jüdische Denkkonzepte von »Eshet Chayil« bis »Zedaka« ausgewählt und dabei keine Wertung oder Hierarchie im Sinn. Nur waren sie ihr zum Teil schon während des Philosophie-Studiums an der Humboldt-Universität oder beim Schreiben ihrer Kolumne über jüdisches Leben in der deutschen »Vogue« begegnet. Außerdem wollte sie ausbrechen aus der »Triangle of Sadness«: Schoa, Antisemitismus und Nahostkonflikt.

Für ihre Lesungen wählt sie stets drei der komplexesten Themen, so auch in München, und zog damit das Publikum in ihren Bann. Es ging ihr um nichts Geringeres als »Tikkun Olam. Von der Verbesserung der Welt«, »Machloket. Richtig streiten lernen« und »Eingedenken. Im Gestern die Zukunft verändern«. Den Einwand ihrer Gesprächspartnerin Ellen Presser, von Tikkun Olam sei man derzeit Lichtjahre entfernt, die Welt sei so zersplittert, ließ Mirna Funk sanft, aber bestimmt nicht gelten.

Es gehe doch darum, die Welt ununterbrochen zu verbessern. Es sei, liest sie vor, »einer der wichtigsten Bausteine im Judentum, ein zentrales Konzept, das die Verantwortung und Verpflichtung der jüdischen Gemeinschaft betont, sich aktiv für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Wohltätigkeit einzusetzen«.

Als Beispiel für die Wirkungskraft, im jüdischen Glauben den Lauf der Geschichte aktiv zu verändern und nicht in Handlungsapathie zu verfallen, nannte sie die zivilgesellschaftlichen Anstrengungen in Israel nach dem 7. Oktober 2023. Der unbedingte Wille, nicht aufzugeben, sondern zu überleben, stecke schon in dem Satz »Am Israel Chai«, der aktive Charakter dieses Satzes ergebe sich aus der grammatikalisch aktiven Form: »Das Volk Israel lebt«.

Bei Hannah Arendt stieß sie auf die Notwendigkeit des inneren Dia­logs inklusive der Selbstverantwortung und leitet daraus ab: »Deshalb brauchen wir das Zwiegespräch – den inneren Machloket – nicht nur, um eine andere Position auszuhalten, nicht nur für die allgemeine Wahrheitsfindung, sondern wir brauchen es für die eigene persönliche Weiterentwicklung.«

Auf das Eingedenken, »Erinnerungsgebot zwischen Gott und den Juden«, stieß Mirna Funk bei Walter Benjamin. Während des Studiums hatte die Urenkelin des Schriftstellers Stefan Hermlin begriffen, »dass mein Blick auf das Leben ein jüdischer ist«, und fügte dann einen Gedanken hinzu, der die Stille im vollen Saal noch konzentrierter werden ließ: »Denn meine Biografie ist älter als ich selbst. In mir kulminieren die Geschichten, Erlebnisse und Gedanken all meiner Vorfahren. Meiner nichtjüdischen, aber eben auch meiner jüdischen.«

Und dann möchte man sie einfach nur noch zitieren: »Zu oft vergessen wir, dass wir alle historische Wesen sind. Wir sind nicht nur jetzt oder nur morgen. Wir sind in einem großen Maße vor allem gestern. Wir sind Gewordene.«

Spricht man sie – klischeebrechend – auf die Kombination von Klugheit und Attraktivität an, dann kontert sie selbstbewusst: »Ich mag, dass man mich sieht.« Es sei gut, der Projektion zu widersprechen, Spannung und Irritation zu kreieren, für Frauen den Weg freizuräumen. Und es sei nichts Falsches daran, sich hübsch anzuziehen und gleichzeitig schlaue Sachen zu sagen.

Mirna Funk: »Von Juden lernen«. dtv, München 2024, 159 S., 18 €

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