Neuerscheinung

»Der innere Machloket«

»Was wir brauchen, ist weniger Gutmenschentheater, bei dem von der Bühne im Rampenlicht abwertend auf die anderen gezeigt wird«, schreibt Mirna Funk in ihrem neuen Buch. Foto: Dudy Dayan

Es war der Sommer 2015. Mein Debütroman Winternähe war gerade erschienen. Ich war schwanger. Im sechsten Monat, um genau zu sein. Anderthalb Jahre war ich nicht mehr wirklich in Deutschland gewesen. Stattdessen war ich erst in Thailand, dann in Israel, dann wieder in Thailand, dann wieder in Israel. Ich hatte kaum noch eine innere Landkarte meiner Heimatstadt, hatte fast vergessen, wie die Dinge in Berlin laufen, wie die Wertvorstellungen aussahen, an was die Menschen glaubten und an was nicht.

Ich war über einen sehr langen Zeitraum einfach raus gewesen. Nicht nur physisch, sondern vor allem mental. Erst hatte ich mich in die Welt meines Romans verabschiedet und dann eben in die zwei völlig unterschiedlichen Welten Asiens, nämlich Israel und Thailand. Aber ich selbst war auch nicht mehr dieselbe Mirna wie noch im Jahr 2013. Ich war nun 2015-Mirna, und die war schwanger und eine Schriftstellerin und lebte in Tel Aviv und hatte sich durch den Prozess des Romanschreibens derart verändert, dass sie nicht nur ein Kind in sich baute, sondern auch einen neuen Menschen aus sich selbst formen musste, weil der alte gestorben war.

Fremde um mich herum und in mir

Um mich herum war Fremde und in mir auch ein bisschen, aber gleichzeitig hatten sich neue Werte und Perspektiven in mir etabliert, was insbesondere an meiner dreimonatigen Kriegserfahrung lag. Täglich mit Bombenalarm aufzuwachen, verändert. In Schutzkellern zu hocken, verändert. Und Raketen am Himmel zu sehen und zu hören, verändert auch. Es ist unmöglich, nach einer solchen Zeit noch dieselbe zu sein. Das war beunruhigend und gleichzeitig extrem bereichernd.

Nun saß ich in einem Café in Berlin vor einer Journalistin, wie ich es zu dieser Zeit jeden Tag mehrmals tat. Das alles war schrecklich neu und unbekannt für mich und unangenehm, aber natürlich auch flattering, klar. Die erwähnte Journalistin wollte mit mir ein Interview führen oder musste es. Wer weiß das schon? Und sie saß da eben vor mir und stellte mir Fragen zu den Themen meines Romans: jüdische Identität, der Israel-Palästina-Konflikt, Antisemitismus. Ruckzuck arbeitete sie die Identitätsprobleme der Protagonistin ab, um zum eigentlichen Thema zu kommen, das ihr offensichtlich besonders am Herzen lag: der IP-Konflikt. Was sonst?

Statt Fragen zu stellen, begann sie zu monologisieren. Wieso, weshalb und warum und dass es doch eine Lösung geben müsse und dass ihre Lösung so und so aussähe und dass es doch nicht sein könne, dass da niemand diese Lösung, ihre Lösung, in Betracht ziehe und dass doch alles so wahnsinnig eindeutig und klar sei. Ich hörte geduldig zu, wie man es gemeinhin als Jude in Deutschland machen muss, und fragte mich natürlich gleichzeitig, wie ich aus der Nummer nun so schnell wie möglich rauskommen könnte, ohne unhöflich zu werden. Es war schließlich ein Interview für meinen Roman, es war schließlich eine Journalistin, die Schreckliches schreiben könnte, wenn ich nicht mitspielte und klein beigab. Damals waren die Zeiten noch andere. Es gab kaum Twitter in Deutschland. Kaum Instagram.

Machloket bedeutet – wenn man es wörtlich übersetzen wollte – »Streit«.

Die Journalistin hatte Macht, und ich hatte keine. Also ließ ich sie reden und reden und reden, und als sie mit ihrer einseitigen Perspektive (die Israelis sind die Täter und die Palästinenser die Opfer) fertig war, sagte ich nur: »Mein Verständnis von diesem Konflikt ist einfach ein anderes. Mein Verständnis von Wahrheit ist einfach ein anderes. Für mich ist Wahrheit kein Kompromiss und auch keine Hegel’sche Synthesis.

Mein Verständnis von Wahrheit bedeutet, dass zwei gegensätzliche Positionen nebeneinander existieren, und die einzige Chance auf Wahrheit ist, sich in einer ständigen und niemals endenden Bewegung zwischen diesen beiden Polen zu bewegen und durch diese ständige Bewegung der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen. Immer, wenn wir glauben, sie begriffen zu haben, entzieht sie sich uns erneut. Und das ist richtig so. Jeder, der behauptet, er habe die Wahrheit für sich gepachtet, jeder, der glaubt, er habe die Welt verstanden, ja jeder, der behauptet, man müsse ihm oder ihr folgen, weil sie der Gral der Weisheit und Wahrheit sind, sollte dringend gemieden werden.«

Diese Vorstellung, die ich damals artikulierte, bezieht sich auf den jüdischen Begriff machloket. Und das Wort machloket bedeutet – wenn man es wörtlich übersetzen wollte – »Streit« und steht für eine jüdische Form von Streitbarkeit. Es bezeichnet eine Meinungsverschiedenheit oder Debatte, insbesondere in Bezug auf Interpretationen religiöser Texte oder ethischer Fragen. Machloket ist ein zentraler Bestandteil des jüdischen Lernens und Denkens, da es als Methode zur Erkundung unterschiedlicher Perspektiven und zur tieferen Untersuchung der Wahrheit genutzt wird.

Zeichen von Engagement und Respekt

Dabei muss betont werden, dass machloket in der jüdischen Tradition nicht negativ konnotiert ist. Vielmehr wird es als Zeichen von Engagement und Respekt betrachtet, wenn die Beteiligten tiefgründig über ein Thema nachdenken und verschiedene Aspekte berücksichtigen. Es wird oft gesagt, dass jeder machloket »lShem Shamayim« (für den Himmel) ist, was bedeutet, dass der Streit mit der Absicht geführt wird, ein tieferes Verständnis der göttlichen Wahrheit zu erlangen. Wenn im Talmud zwei Rabbiner einen machloket, einen Streit, austragen, geht es aber nicht darum, dass der eine gewinnt und der andere verliert, sondern beide Meinungen um des Himmels willen parallel existieren. Arendt’schen Zwiegesprächvergleichen.

Doch das Problem des aktuellen gesellschaftlichen Klimas, in dem keiner mehr die Meinung des anderen auszuhalten scheint, ist nicht, dass sich alle für so unfassbar genial halten und ernsthaft glauben, das Wissen für sich gepachtet zu haben, sondern dass ihre Unfähigkeit zum Zwiegespräch echte moralische Integrität verhindert. Der Narzisst hält sich nicht wirklich für genial, ganz im Gegenteil: Er hält nichts von sich. Genau deswegen muss er auch ständig ein übergroßes Bild von sich zeichnen, auf dem er perfekt und fehlerfrei scheint, weil ihn die eigenen Fehler schier wahnsinnig machen.

Er hat im Arendt’schen Sinne keinen anderen in sich verinnerlicht. Er hat im jüdischen Sinne keinen Shammai in sich verinnerlicht, wenn er selbst Hillel ist. Er hat nicht gelernt, widersprüchliche Positionen, die sich am Ich und Selbst entladen würden, in einem Zwiegespräch miteinander diskutieren zu lassen und diese Diskussion, diesen machloket, in sich auszuhalten. Denn dabei müssten die guten und schlechten Seiten ausgehalten werden, dabei würden Lebenslügen und Fehler an die Oberfläche treten, dabei müssten wir Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen, ohne dem bösen Außen die Schuld an unseren Lebensumständen zu geben.

Gesellschaftliche Missstände und Miseren

Das Zwiegespräch, der innere machloket, ist deswegen nicht nur für die persönliche Biografie ein überlebenswichtiges Tool, sondern es könnte, genau wie Arendt insistierte, gesellschaftliche Missstände und Miseren verhindern. Es braucht den Schlussstrich unter die Obsession, immer und überall moralisch überlegen sein zu wollen, und stattdessen die Hinwendung zu echter moralischer Integrität, die sich wissend um die eigene Fehlbarkeit automatisch von einer moralischen Überlegenheit distanziert. Denn moralische Überlegenheit ist die Selbstlüge, der der Narzisst erliegt, wenn er glaubt, frei von Fehlern zu sein.

»Der Israeli wird als Täter dargestellt, der Palästinenser als Opfer.«

Die inneren Stimmen, Ich und Selbst, würden die Fehler nicht vertuschen können, sondern sich ihnen liebevoll dialogisch zuwenden. Was wir brauchen, ist weniger Gutmenschentheater, bei dem von der Bühne im Rampenlicht abwertend auf die anderen gezeigt wird und diese gleichzeitig einer preußischen Bestrafung ausgesetzt werden, und mehr jüdische Dialogfähigkeit, die sich seit Jahrtausenden im Umgang mit den Mitmenschen, den Schriften, aber auch Gott auszeichnet.

Der jüdische Witz, der sich immer um die eigene Fehlbarkeit dreht und nicht die Fehlbarkeit der anderen oder die Abwertung der anderen ins Zentrum rückt, ist ein Beispiel für die kulturelle Unterschiedlichkeit und ein gelebtes inneres Zwiegespräch. Über den anderen zu lachen, heißt, die negativen inneren Aspekte auszulagern und auf den anderen zu projizieren, um sich besser zu fühlen.

Eine uralte antisemitische Strategie und Kulturtechnik

Nichts anderes tat im Übrigen die Journalistin im Sommer 2015. Nichts anderes wird seit dem 7. Oktober vermehrt getan. Der Israeli wird als Täter dargestellt, der Palästinenser als Opfer. Schlage ich mich auf die Seite der Opfer und zeige mit dem Finger auf die Täter, kann ich mich moralisch überlegen fühlen. Ich bin auf der Seite der Opfer. Ich bin auf der Seite derjenigen, die Unrecht erleiden. Das Böse bin nicht ich. Das Böse ist der Jude. Eine uralte antisemitische Strategie und Kulturtechnik, die sich identisch zur aktuellen Situation schon vor 100 Jahren zeigte.

Aber die Journalistin lagerte nicht nur ihr inneres Böses an den Israeli aus, sie war gleichzeitig nicht in der Lage, im Arendt’schen Sinne an den anderen zu denken. Weder an den Raketenbeschuss aus Gaza auf Israel, der sich im Sommer 2014 über Monate ereignet hatte, noch an mich, die schwanger vor ihr sitzend diesen Raketenbeschuss miterlebt hatte; die sehen musste, wie Brandsätze auf die Synagoge in Wuppertal geworfen wurden, wie propalästinensische Demonstranten eine Burger-King-Filiale in Nürnberg stürmten, weil sie es für ein »von Juden kontrolliertes Unternehmen« hielten, und die als Jüdin antisemitischem Terror online wie auch im realen Leben ausgesetzt war.

Dafür gab es keine Antenne, keine Sensibilität. Der Blick war ausschließlich auf die Erfahrung der Palästinenser gerichtet. Dabei war die Journalistin keine Palästinenserin. Sie war auch keine Araberin, die in irgendeiner Weise peripher durch die Ereignisse betroffen war. Sie war eine ganz normale Deutsche, die sich bewusst für ein dichotomes Verständnis des Konflikts entschieden hatte, bei der die Rollen klar und eindeutig aufgeteilt waren.

Meine direkte Betroffenheit wurde weder gesehen noch mitgedacht noch mitempfunden. Ich wurde der Seite der Täter zugeordnet. Ein innerer machloket fand bei ihr nicht statt. Die Chance auf einen Dialog, der über ein dichotomes Verständnis von der Welt hinausführen könnte, war vereitelt. Die Begegnung zeigte, dass – ob nun im Außen oder im Innen – wir uns weder der Wahrheit über uns noch der Wahrheit über den anderen noch der Wahrheit über die Gesellschaft in irgendeiner Weise nähern können, wenn wir uns nicht an die Definitionen für einen machloket halten.

Mirna Funk: »Von Juden lernen«. dtv, München 2024, 160 S., 18 €

Abdruck mit freundlicher Genehmigung

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