Essay

War es falsch, Gil Ofarim zur Seite zu springen?

Philipp Peyman Engel, Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen Foto: Marco Limberg

Essay

War es falsch, Gil Ofarim zur Seite zu springen?

Ein Blick zurück

von Philipp Peyman Engel  03.12.2023 12:26 Uhr

Ich habe ihm geglaubt. Zu Beginn. Dann hatte ich - wie so viele andere auch - Zweifel an seiner Darstellung. Dann wiederum hatte ich Zweifel an meinen Zweifeln.

Wer denkt sich so etwas aus, fragte ich mich. Kein Jude, den ich kenne, würde so etwas tun.

Am Ende wusste ich gar nichts mehr. Ausgedacht konnte er es sich nicht haben. Zugleich deutete alles darauf hin, dass es sich so nicht zugetragen haben konnte.

Nun haben wir alle Gewissheit: Gil Ofarim hat gelogen. Von Anfang an. Ganze zwei Jahre lang. Der Sänger hat gestanden, sich die antisemitischen Vorwürfe gegen einen Mitarbeiter des Hotels Westin Leipzig ausgedacht zu haben.

Über seine Motive kann nur spekuliert werden. War es Ärger über das Hotel und den Mitarbeiter? Wollte der C-Promi sich mit dem Vorfall wieder stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken? Waren psychische Probleme ausschlaggebend? Wir wissen es nicht.

Gil und ich kennen einander. Nicht sonderlich gut, aber doch flüchtig. Ich habe ihn einige Male interviewt und bin ihm am Rande einiger jüdischer Events begegnet. Im Oktober 2021 waren wir beide in der RTL-Sendung »Stern TV« zu Gast. Knapp drei Wochen zuvor war Ofarims Video mit den judenfeindlichen Anschuldigungen viral gegangen, jetzt wurden erstmals Zweifel an seiner Version laut.

Vor und nach der Sendung telefonierten wir beide. Gil wirkte aufgelöst. Verzweifelt. Er versicherte, die Wahrheit gesagt zu haben und bat um meine Unterstützung. Welcher Jude würde sich so etwas ausdenken, fragte er. Genau. Welcher Jude würde sich das schon ausdenken? Ich glaubte ihm wieder, obwohl ich ihm eigentlich nicht glaubte.

War es falsch, damals, im Oktober 2021 Gil Ofarim nach seinem Video reflexhaft zur Seite zu springen und ihm Solidarität zu versichern? Viele jüdische Prominente wie die stellvertretende CDU-Vorsitzende Karin Prien oder der Pianist Igor Levit beantworten diese Frage mit Ja und entschuldigen sich dieser Tage wortreich für ihre Fehleinschätzung.

Überzeugender indes ist die Erklärung der Schauspielerin Susan Sideropoulos: »Für meine Realität ist es so weit weg, dass jemand in so einem Fall die Unwahrheit sagen könnte, daher bereue ich es auch nicht, dass ich am Anfang dem augenscheinlichen Opfer geglaubt habe«, so die Berlinerin.

In der Tat: Antisemitische Anfeindungen sind eine Realität. Sie ereignen sich jeden Tag dutzendfach.

Eine bemerkenswerte Koinzidenz: Am Tag seines Geständnisses, einige Stunden zuvor, veröffentlichte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) ihre neue Statistik. Demnach steigen die judenfeindlichen Fallzahlen in Deutschland um 320 Prozent an.

Gleichzeitig werden nun Juden und jüdische Organisationen aus verschiedenen Richtungen mit dem Vorwurf konfrontiert, antisemitische Vorfälle zu fingieren. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht? Durchaus. Doch würde man, sagen wir, der gesamten Ärzteschaft, die Glaubwürdigkeit absprechen, bloß weil einer von ihnen gelogen hat?

Hand aufs Herz: Wer jetzt sagt, es gebe keinen Judenhass, der war schon vor dem Fall Ofarim ein Antisemit.

Der Prozess gegen den Sänger zeigt - mit allen Stärken und Schwächen des Rechtssystem -, dass auch bei Falschbeschuldigungen Gerechtigkeit wiederhergestellt werden kann. Trotzdem gibt es im Fall Ofarim nur Verlierer.

Da wäre zum einen Gil Ofarim selbst. Seine Glaubwürdigkeit und seine Karriere sind am Tiefpunkt. Es ist fraglich, ob sich beides jemals wieder ändern wird. Doch es ist eine gerechte Strafe. Nur er allein kann die Konsequenzen seiner Lügen verantworten. Es ist ihm zu wünschen, dass er sie annehmen und tragen kann.

Der jüdischen Gemeinschaft hat Ofarim durch seine Lügen ebenfalls einen großen Schaden zugefügt. Ihr hat Gil Ofarim einen großen Bärendienst erwiesen. Der Antisemitismus unter Muslimen, von rechts, links und in der Mitte der Gesellschaft ist gegenwärtig so virulent wie seit Jahrzehnten nicht. Dass Ofarim dazu beigetragen hat, dass tatsächliche Opfer antisemitischer Gewalt sich rechtfertigen müssen, ist unentschuldbar.

Das größte Opfer, und über ihn wird in diesen Tagen viel zu wenig öffentlich gesprochen, ist der zu Unrecht beschuldigte Hotelangestellte Herr W. Zwei Jahre lang musste er mit dem Vorwurf leben, ein lupenreiner Judenhasser zu sein. In Deutschland ist dies, zu Recht, ein Vorwurf, der sehr schwer wiegt.

Jeder im Umfeld von Herrn W. wusste von Ofarims Anschuldigungen gegen ihn. Am Rande des Prozesses war zu hören, dass Freunde sich von ihm abwendeten, Arbeitskollegen den Kontakt mit ihm mieden.

Es muss die Hölle für ihn gewesen sein. Bis heute ist er in psychologischer Behandlung.

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