Literatur

Wenn Leere gefährlich wird

Ist mit »J« auf dem Höhepunkt seines Schaffens angekommen: Howard Jacobson Foto: dpa

Literatur

Wenn Leere gefährlich wird

In »J« erzählt Howard Jacobson von der »Judenfrage«, ohne das Wort zu erwähnen

von Nicole Dreyfus  22.12.2015 12:03 Uhr

Parabeln sind etwas für Bücher aus einer anderen Zeit. So denken wir wohl als Erstes an die »Ringparabel« aus Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise. Erste Enttäuschung: falsch gedacht. Parabeln sind dem Zeitgeist von heute zuzuordnen. Eine solche Parabel ist in Howard Jacobsons neuem Roman mit dem schlichten Titel J zu lesen. Jacobson mutet seinem Publikum einiges zu, wenn er etwa auf der ersten Seite seines Buches mit einer, wie er es nennt, »Themenstellung« den Leser begrüßt.

In dieser Parabel unterhalten sich ein Wolf und eine Vogelspinne über ihre Jagdmethoden. Dabei gehen sie eine Wette ein, wer von beiden die bessere Methode hat: der Wolf, der mit seiner Familie ständig auf Jagd geht, oder die Spinne, die wartet, bis ihre Opfer ihr ins Netz gehen. Einige Tage später stellt die Spinne fest, dass alle natürlichen Beutetiere des Wolfes verschwunden sind und er die Wette gewonnen hat. Nur dann stellt die Spinne dem Wolf die alles entscheidende Frage, wie er sich nun weiter ernähren wolle. Letztlich, so meint der Wolf, in Tränen aufgelöst, werde ihm jetzt nichts anderes übrig bleiben, als sich selbst aufzufressen.

geheimnisvoll Es folgt die zweite Enttäuschung. Was genau bezweckt die Parabel? Wir wissen es nicht gleich und müssen weiterlesen. Dann wird eine eigentlich ganz simpel gestrickte Geschichte erzählt: Zwei Menschen verlieben sich, ohne zu wissen, woher sie kommen oder wohin sie gehen. Kevern Cohen, Holzarbeiter in Port Reuben, fragt sich, warum sich sein Vater stets mit zwei Fingern über die Lippen fuhr, als dieser sagte, die Welt beginne mit einem »J«. Doch es ist weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um Fragen zu stellen, und darum bleiben die Antworten aus.

Auch Ailinn Solomons tappt im Dunkeln, was ihre Herkunft betrifft. Bei ihrem ersten Treffen küsst Kevern Ailinns Blutergüsse unter den Augen. Er fragt sie nicht, wer sie verletzt hat. Ihre Verletzungen scheinen ganz normal zu sein. Brutalität ist alltäglich geworden. Beide sind sich jedoch nicht sicher, ob sie sich einfach verliebt haben oder ob ihre Beziehung weniger zufällig ist, als es auf den ersten Blick scheint. Aber wenn die Liebe nicht zufällig einschlug, wer hatte sie dann zu einer Vereinigung getrieben und warum?

Wir wissen es nicht! Und da wäre noch Keverns mögliche Beteiligung an der Ermordung einer Frau. Der ebenso einsame wie hartnäckige Inspektor Gutkind, der in einem Dorf lebt, das mit Staub bedeckt ist, nimmt sich des Falles obsessiv an.

genial Das alles klingt zunächst wie eine tragische Liebesgeschichte. Doch Jacobsons Werk ist mehr. Seine Genialität – und hier verwandelt sich die latente Enttäuschung in Begeisterung – ergibt sich durch die Auslassung und durch aus der Zeit gegriffene Erzählpassagen. Zu Beginn des Buches zum Beispiel wird eine Forscherin namens Esme Nussbaum eingeführt, deren Aufgabe es ist, einem Wächter über die Gewalt im Land zu berichten. Dies war 20 Jahre, bevor Ailinn und Kevern sich das erste Mal begegneten. Und da wäre noch Ailinns Großmutter, die gegen den Willen ihrer Eltern in einer Kirche geheiratet hat.

Allmählich entstehen so Konturen einer Geschichte, die sich ereignet haben könnte. Aber sie bleibt lückenhaft, ob absichtlich weggeelassen oder einfach nur vergessen. Selbst der Titel des Buches weist auf das Vergessen hin: Einfach J wie 1000 mögliche Worte. Oder es ist eben doch ein Verweis auf die Kennzeichnung von Juden durch die Nazis, und ganz zufällig auch auf ihre Selbstbeschreibung als Söhne Jakobs, und damit auch noch gleich auf den Namen des Autors.

Gerade weil das Wort »Jude« nicht ein einziges Mal im Buch vorkommt, drängt sich die Vermutung auf, dass das »J« jüdisch zu deuten ist. Denn das Buch spielt mit Fragmenten der jüdischen Geschichte. Man denke dabei nur an die auffällig vielen jüdischen Familiennamen, die einer nach dem anderen in dem Text vorkommen.

Metapher J ist ein Schoa-Roman seiner eigenen Art. Er spielt in der Zukunft, nachdem eine Katastrophe passiert ist, über die nur als »Was geschah, falls es geschah« gesprochen wird, wohl als Metapher für die Schoa. Diese wird nie direkt erwähnt, aber stets durch bestimmte Begriffe angedeutet.

Es wäre dies nicht das erste Mal, dass Jacobson mit der großen jüdischen Katastrophe textlich spielt und falsche Fährten legt. Bereits sein Roman Die Finkler-Frage (2011) untermauerte Jacobsons Motivation. In dem Buch ist ein Nichtjude namens Julian Treslove überzeugt, Opfer eines antisemitischen Angriffs geworden zu sein, und sucht sich bei seinem jüdischen Freund Samuel Finkler Bestätigung nach der Attacke, bei der Treslove meint, als »Du Jud!« beschimpft worden zu sein.

Dabei geht es Treslove primär darum, sich mit der jüdischen Geschichte zu identifizieren. Während in J das Wort »Jude« wie erwähnt indes nie vorkommt, wird es in der Finkler-Frage anfangs inflationär benutzt, nach einigen Seiten jedoch durch Samuels Nachnamen Finkler ersetzt. Und so wird aus Die Finkler-Frage ziemlich offensichtlich »die Judenfrage«. Liest man die beiden Werke Jacobsons nun als Einheit, meint man darin die tragische Geschichtsfolge »Judenfrage«/Holocaust zu erkennen.

Opfer J steht aber auch ganz allgemein für den Hass im Mittelpunkt des menschlichen Daseins. Es gibt keine Akzeptanz, sondern nur Zorn – auch für die Opfer, die für ihre eigene Verfolgung verantwortlich gemacht werden. Jacobson, der sich selbst als die »jüdische Jane Austen« bezeichnet, wurde mit diesem Werk, das sich nicht in den Tenor seiner vorangegangenen Bücher einreihen lässt, mit dem höchsten englischen Literaturpreis, dem »Man Booker Prize«, ausgezeichnet. Man kommt nicht gleich auf die Idee, den Roman als jüdische Literatur zu sehen, und doch gerade das ist es in einem Maße wie nicht viele andere Bücher.

Nein, ein freudvolles Buch ist J nicht geworden, aber seine beharrliche Dynamik legt die Vision einer Welt dar, in der das Unsägliche, das Nichtgesagte erklärt werden kann. Und so wird schlussendlich auch klar, was Jacobson im Sinn hat, wenn er eine Allegorie voranstellt, die nur eines zum Ziel hat: die Brutalität des Schweigens spürbar werden zu lassen und gegen das Vergessen anzutreten.

Howard Jacobson: »J«. Übersetzt von Friedhelm Rathjen. DVA, München 2015, 416 S., 22,99 €

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