Sehen!

Walter Kaufmann –Welch ein Leben!

Walter Kaufmann bei einer Lesung in der Botschaft von Australien Foto: imago images / Mike Schmidt

Wie unfassbar viel Zeitgeschichte kann in einer Biografie stecken? Diese Frage muss man sich ganz unweigerlich stellen nach Karin Kapers und Dirk Szuszies’ Dokumentarfilm Walter Kaufmann –Welch ein Leben!. So reißerisch der Untertitel zunächst auch wirken mag: Er passt.

Das Leben des am 15. April im Alter von 97 Jahren in Berlin gestorbenen Schriftstellers gleicht einer Tour de Force durch wesentliche (Schreckens-) Stationen des vergangenen Jahrhunderts. 1924 geboren in Berlin als Sohn einer armen polnischen Jüdin, wächst der zur Adoption freigegebene Kaufmann ab seinem dritten Lebensjahr bei einem wohlhabenden jüdischen Ehepaar in Duisburg auf.

KINDERTRANSPORT Als Jugendlicher flieht er mit einem Kindertransport vor den Nazis nach England, wird nach einer Internierung auf dem berüchtigten Schiff »Dunera« nach Australien verfrachtet und verbringt dort zwei weitere Jahre in einem Internierungslager.

Kaufmann wird Soldat der australischen Armee, Hochzeitsfotograf, Seemann und später Schriftsteller und Journalist. Er lebt ab 1957 in der DDR, reist mit seinem australischen Pass als Autor um die Welt.

Kaufmann wird Soldat der Australischen Armee, Hochzeitsfotograf, Seemann und später Schriftsteller und Journalist. Er lebt ab Mitte der 1950er Jahre in der DDR, reist mit seinem australischen Pass als Autor um die Welt. Im Film sehen wir Aufnahmen aus einem Kuba unter Fidel Castro, in den Vereinigten Staaten begleitet Kaufmann die Bürgerrechtsbewegung und den Prozess gegen die schwarze Aktivistin Angela Davis, aus Japan berichtet er von den Folgen des Atombombenabwurfs. In einer seiner Aufzeichnungen ist die Rede von den »weißen toten Augen von Hiroschima«. Darin beschreibt Kaufmann, wie er einem alten Mann und seiner schaukelnden Enkelin zusieht und erst nach und nach bemerkt, dass beide erblindet sind: der Schrecken der Bombe gebannt in einer bildstarken Beobachtung.

Auf diese Weise werden im Film zwischendurch immer wieder Textfragmente, angekündigt mit den Worten »Und Walter Kaufmann schrieb«, rezitiert. Ein weiteres erzählerisches Moment bilden in der ersten Filmhälfte die Briefe von Sally und Johanna Kaufmann an den jungen Kaufmann. In dem über Jahre anhaltenden Briefwechsel manifestiert sich der Terror der Nazis, von der Flucht des Adoptivsohnes, über den langsam erlöschenden Hoffnungsfunken, dass sie, die Adoptiveltern, selbst noch das Land noch verlassen können. Mit der Deportation nach Theresienstadt endet der Austausch, Sally und Johanna Kaufmann werden im KZ Auschwitz ermordet.

OFF Neben den Briefen und Textrezitationen lassen Karin Kaper und Dirk Szuszies, die schon beim Generationenporträt »Wir sind Juden aus Breslau« von 2016 zusammengearbeitet haben, in ihrem neuen Film vor allem Walter Kaufmann selbst sprechen. Ohne Talking Heads bietet ihr Film dem Schriftsteller einen Raum für seine audiovisuelle Autobiografie. Während auf Bildebene in klassischer Dokumentarfilmmanier historische Videoaufnahmen, Fotos, Zeitungsartikel und aktuelle Aufnahmen zusammenmontiert werden, erzählt Kaufmann, meist aus dem Off, in teils prosaischer Sprache aus seinem Leben. Beim Abschied am Bahngleis etwa habe er versucht, die Adoptivmutter mit den Worten zu trösten, dass er ja gar nicht ihr richtiger Sohn sei, woraufhin diese »blass und traurig« wurde. »Im Rauch des davonfahrenden Zuges verschwand ihr Gesicht.«

Kapers und Szuszies’ in seiner Form klassisch angelegter Dokumentarfilm berührt durch die Konzentration auf seinen Protagonisten. Walter Kaufmann war, das zeigt der Film, ein Mann, den die Not zur Mobilität zwang, und der danach, auch bin ins hohe Alter hinein, niemals stillstehen konnte. Und er zeigt einen in kommunistischen Kontexten sozialisierten Intellektuellen, der nie die Hand vor den Mund nahm. »Immer unbeugsam und unbequem«, hieß es im Nachruf der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« treffend.

Wenn Kaufmann schließlich als Zeitzeuge mit größter Sorge auf Entwicklungen wie den NSU, den Anschlag auf die Synagoge in Halle, den Mord an Walter Lübcke und die »bestialischen Morde« in Hanau blickt, bleibt einem ein Kloß im Hals stecken. »Dieser Rechtsruck hat mich mobilisiert, dass ich jetzt innerlich auf die Barrikaden gehen möchte und allen sagen: Nie wieder, das nie wieder!«

»Walter Kaufmann – Welch ein Leben!«, ab 30. September im Kino

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025