Literatur

Von Ragtime bis Homer

Chronist der amerikanischen Gesellschaft: E. L. Doctorow (1931–2015) Foto: dpa

»Ich kann Ihnen von meinem Freund Andrew erzählen, dem Kognitionswissenschaftler. Es ist aber nicht schön. Er stand eines Abends mit einem Baby auf dem Arm vor der Tür seiner Exfrau Martha. Weil Briony, seine reizende junge Frau nach Martha, gestorben war.« So beginnt E. L. Doctorows letzter Roman Andrew’s Brain – eine Reise in elf Kapiteln auf dem schmalen Grad zwischen Fakten und Fiktion –, der am 17. August in Deutschland unter dem Titel In Andrews Kopf erscheint.

Der erste Satz ist typisch für Doctorow: mitten rein in die Geschichte – ein Mann, zwei Frauen und ein Kind, sofort ist der Leser neugierig. Und er zeigt eine seiner zwei Marotten: Der Schriftsteller hasste Anführungszeichen (deshalb ist die wörtliche Rede nie hervorgehoben) und liebte Kommata (was zu Bandwurmsätzen führte).

historisch Verglichen mit dem Werk seiner Zeitgenossen Philip Roth und Louis Begley ist das Œuvre von Doctorow – aus dem Ragtime (1975), Billy Bathgate (1989) und Homer & Langley (2009) herausragen – kaum von persönlichen Erfahrungen geprägt. Anders als Roth und Begley sprach er nicht für eine gesellschaftliche Schicht, sondern spiegelte die amerikanische Gesellschaft als Ganzes. Dies anerkennend, twitterte US-Präsident Barack Obama unmittelbar nach dessen Tod: »E. L. Doctorow war einer von Amerikas größten Romanautoren. Aus seinen Büchern habe ich viel gelernt. Wir werden ihn vermissen.«

Doctorow wurde mit seinem von linksliberalem Humanismus geprägten Werk Leitfigur für Autoren – als Scout, als Verleger und als Lektor von James Baldwin und Norman Mailer. Spezifisch jüdische Themen spielen in seinen Romanen, Kurzgeschichten, Essays und Theaterstücken, viele davon verfilmt, keine große Rolle.

Darin gleicht er J.D. Salinger, ebenfalls Enkel jüdischer Einwanderer. Vielmehr hob er die Trennung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur auf – mit einem schönen Nebeneffekt für Leser: »Der Historiker erklärt, was passiert ist. Der Romanautor erklärt, wie es sich angefühlt hat«, sagte Doctorow einmal. Nur ein einziges Mal nutzte der am 6. Januar 1931 in der Bronx geborene Autor auch die eigene Familiengeschichte: in dem Roman Weltausstellung, der mit der Ankunft seiner Vorfahren in Amerika beginnt.

absturz Seine Großeltern waren Ende 1886 als mittellose jüdische Emigranten aus dem zaristischen Russland in die USA gekommen. Den musikalischen Eltern gelang es, bescheidenen Wohlstand aufzubauen, doch der Zusammenbruch der New Yorker Börse 1929 dämpfte den Erfolg, die Rezession von 1937/38 zwang sie, in die Bronx umzuziehen: ein sozialer Abstieg, der jedoch keinen kulturellen Verlust bedeutete. »Geld hatten wir keines, aber dafür umso mehr Musik und Bücher.« So lag ein Studium nahe, zunächst in Ohio, danach an der Columbia-Universität. Dort lernte er auch seine Frau Helen Setzer kennen, die er in Deutschland als dort stationierter Soldat der US-Armee heiratete.

Der Vater dreier Kinder hat fast alle wichtigen Literaturpreise erhalten, darunter auch zwei PEN/Faulkner Awards und in frühen Jahren eine Nominierung für den National Book Award für Das Buch Daniel (1971) über das Ehepaar Ethel und Julius Rosenberg, das 1953 in den USA wegen Spionage hingerichtet wurde. Der Literaturnobelpreis, für den er Jahr um Jahr aufs Neue im Gespräch war, wurde ihm indes nicht zuteil. Am 21. Juli ist E.L. Doctorow im Alter von 84 Jahren in New York an Krebs gestorben.

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025