Literatur

»Wir hatten unglaubliches Glück«

Ganze Generationen sind mit diesem Buch aufgewachsen: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl von Judith Kerr (1923–2019). Die Autorin, die am 14. Juni 100 Jahre alt geworden wäre, erzählt in dem ikonischen Jugendroman die Geschichte eines behüteten jüdischen Mädchens aus Berlin, dessen Kindheit durch die Machtübernahme der Nazis jäh endet.

Die Handlung von When Hitler Stole The Pink Rabbit von 1971 (auf Deutsch erschienen 1974 in einer Übersetzung von Annemarie Böll), das sich in Deutschland weit über eine Million Mal verkauft hat, erzählt nur leicht verfremdet Judith Kerrs Lebensgeschichte: Anna, Tochter eines Schriftstellers, muss mit ihren Eltern und ihrem Bruder im März 1933 Berlin verlassen.

FLUCHT Die Familie flieht in die Schweiz, später nach Paris und anschließend nach London. Sie lässt Onkel Julius in Berlin zurück, der sich später nach zahlreichen Schikanen der Nazis, die ihm als Juden unter anderem den geliebten Zoobesuch untersagten, das Leben nehmen wird. Und die zehnjährige Anna fragt sich im Buch, ob ihre Kindheit schwer genug ist, um später einmal eine berühmte Schriftstellerin zu werden.

Für viele junge deutsche Leserinnen und Leser war das Rosa Kaninchen die erste literarische Begegnung mit jüdischer Flucht und Exil. Wer heute an Judith Kerr denkt, dem fällt vielleicht der Gasthof Zwirn ein, die Rad schlagende Anna und ihre verklemmten Klassenkameraden in einem Schweizer Dorf – oder dieselbe Anna, die in Paris eine Schulabschlussprüfung besteht, weil sie in Sport so ruhig auf einem Bein stehen kann. Oder der WDR-Spielfilm von Volker Canaris (1978). Oder auch der höchst gelungene Kinofilm von Charlotte Link mit Riva Krymalowski in der Hauptrolle, erschienen 2019, wenige Monate nach dem Tod der Autorin.

Judith war die Tochter von Alfred und Julia Kerr, der zweiten (und 31 Jahre jüngeren) Frau des bekannten Schriftstellers, Feuilletonisten und Theaterkritikers. Dafür, dass die Familie rechtzeitig aus Berlin fliehen konnte, war die britisch-jüdische Autorin ihr Leben lang dankbar: »Die Nazis haben über sechs Millionen Juden getötet, und ausgerechnet unsere Familie hatte das unglaubliche Glück zu überleben. Das bleibt nicht ohne Wirkung«, sagte sie der Jüdischen Allgemeinen 2011.

BERUF Während der Flucht wurden die Mittel knapp. Judith Kerr lernte trotzdem einen kreativen Beruf: »Ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, als ich nicht zeichnen wollte«, erinnerte sie sich. In England wurde sie Illustratorin und arbeitete später auch als Lektorin und Übersetzerin für die BBC. Dort lernte sie ihren späteren Mann kennen, den Autor Nigel Kneale, mit dem sie zwei Kinder hatte.

1968 brachte das Bilderbuch Ein Tiger kommt zum Tee Judith Kerr den Durchbruch. Ursprünglich geschrieben als Gute-Nacht-Geschichte für ihre Tochter, wurde das Buch zum Bestseller. Es erzählt von einem freundlichen Raubtier, das sich selbst in eine Wohnung einlädt, alle Vorräte auffrisst und die Wasserleitung leertrinkt.

Für Als Hitler das rosa Kaninchen stahl erhielt Judith Kerr 1974 den Deutschen Jugendliteraturpreis. Später schrieb sie die Fortsetzungen Warten bis der Frieden kommt (1975) und Eine Art Familientreffen (1978). Trotz schwerer Erfahrungen hat Judith Kerr sich immer einen Sinn für Leichtigkeit bewahrt. Über ihren Vater sagte sie: »Er hat mir und meinem Bruder immer wieder befohlen, das Leben anzunehmen. Du musst glücklich sein, schrieb er auch in einem seiner letzten Briefe.« Sein Optimismus hat Alfred Kerr überlebt – in den Büchern seiner Tochter.

Hans-Jürgen Papier

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