Fotografie

Über die Würde des Unangepassten

Sie alle sind hier: der junge Mann mit trotzigem Blick, Lockenwicklern und perfekt manikürten Fingernägeln in seinem Apartment in der West 20th Street, der staksige blonde Junge mit der Spielzeuggranate in der Hand im New Yorker Central Park, dem der Hosenträger von der Schulter gerutscht ist und der vor innerer Unruhe und Anspannung beinahe selbst zu explodieren scheint, der »jüdische Riese« Eddie Carmel, der mit seinen über 2,30 Metern Körpergröße im winzig anmutenden Wohnzimmer der Eltern in der Bronx steht, und die siebenjährigen eineiigen Zwillingsschwestern Cathleen und Colleen Wade in Roselle, New Jersey. Es ist das wohl bekannteste Werk der amerikanischen Fotografin.

Diane Arbus, die sich am 26. Juli 1971 mit nur 48 Jahren das Leben nahm, gilt als eine der ungewöhnlichsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Mit ihren ausdrucksstarken Bildnissen von Menschen am Rande der Gesellschaft stellte sie ästhetische Konventionen radikal infrage. Einen Großteil ihrer Karriere verbrachte sie in New York. Hier fotografierte sie auch Schriftsteller, Schauspielerinnen und Intellektuelle wie Norman Mailer, Marcello Mastroianni in seinem Hotelzimmer, Mae West, W.H. Auden oder Marcel Duchamp. Und nicht zuletzt Susan Sontag mit ihrem Sohn David.

Nach dem Porträt der amerikanisch-jüdischen Philosophin muss man suchen. So wie nach jedem anderen Bild in dieser Ausstellung. Oder man entdeckt es plötzlich – überraschend, unvorbereitet. Diane Arbus: Konstellationen im Berliner Gropius Bau ist mit 454 Schwarz-Weiß-Prints die bislang umfassendste Schau über die Fotografin und eröffnet gleichzeitig neue Perspektiven auf die ikonischen Porträts und das vielfältige Schaffen der Künstlerin.

Das Ungewöhnliche ist die Anordnung ihrer Werke, die in dunklen Rahmen und weißen Passepartouts auf filigrane, alle Räume durchziehende, schwarze Sprossenwände in unterschiedlichen Höhen montiert sind.

Kein Anfang und kein Ende

Ein mäandernder Parcours, der keinen Anfang und kein Ende erkennen lässt, dem der Besucher wie durch ein Labyrinth folgt, und in dem wir die unterschiedlichen Charaktere wahrnehmen, als begegneten wir ihnen flüchtig auf der Straße. Anstelle eines Rundgangs gibt es zahlreiche Wege, und der Fokus verändert sich je nach Laufrichtung. Es geht um Zufall, um die Erfahrung von Ordnung und Unordnung, um unterschiedliche »Konstellationen«, wie der Titel der Ausstellung bereits nahelegt.

Auch die Reihenfolge der Fotografien ist offensichtlich willkürlich, sie sind weder chronologisch noch thematisch geordnet – ohne erkennbare Struktur oder Erklärung, aber auch ohne jegliche Ablenkung. Nichts stört die Aufmerksamkeit, keine Beschriftung, keine Hinweistafel, kein Leitfaden. Ein zersplittertes Archiv von Gesichtern und Geschichten, das dazu einlädt, nicht nur zu schauen, sondern wiederholt hinzusehen, nach oben und unten, durch- und zurückzublicken, sich hinzuknien, den Hals zu recken, zu vergleichen, zu kontrastieren und Verbindungen herzustellen.

Mit ihrer Arbeit stellte sie ästhetische Konventionen radikal infrage.

Diane Arbus wurde am 14. März 1923 als Diane Nemerov in New York geboren und wuchs in privilegierten Verhältnissen auf. Ihre Familie besaß ein Pelz- und Modekaufhaus an der Fifth Avenue. Während des Studiums arbeitete sie mit ihrem Mann als Modefotografin für Magazine wie »Harper’s Bazaar« und »Vogue«. Doch das Korsett der Werbebranche wurde ihr bald zu eng.

1960 schrieb sie in einem Brief an den Maler Marvin Israel: »Ich würde gern alle fotografieren« und beschloss, sich fortan auf ihre künstlerische Arbeit zu konzentrieren. Sie wandte sich der Straße zu, richtete ihren Fokus auf die Außenseiter der Gesellschaft: Arme, Alte, Dicke, Kleinwüchsige, das Personal der nächtlichen Straßen und billigen Kinos der Großstadt, die Gaukler und Artisten des Jahrmarkts, Transvestiten, Nudisten, Prostituierte oder Tätowierte.

Arbus gestaltete aber nicht das Spektakel, sondern folgte der Würde und Intimität des Moments. Ihre Bilder sind weder sentimental noch mitleidig, vielmehr bestimmt von einer beinahe naiven Neugierde. »Ich arbeite aus einer Unbeholfenheit heraus«, sagte sie einmal. »Damit meine ich, dass ich es nicht mag zu arrangieren.« Sie ließ die Modelle sich selbst inszenieren. So entstanden Werke, die auf eine besondere Art »ungeschminkt« und ehrlich sind.

»Wenn man die Realität genau genug unter die Lupe nimmt, wenn man sie auf irgendeine Weise wirklich, wirklich versteht, wird sie fantastisch.« Arbus bildete radikal ab, was war – nicht im Sinne von Gleichmacherei, sondern in dem Vertrauen auf kompromisslose Gleichbehandlung. Sie wollte darstellen, was die plurale Gesellschaft ausmacht, und nutzte dafür die Fotografie – nicht um zu idealisieren, sondern als Mittel der Wahrhaftigkeit.

Susan Sontag: Voyeurismus und fehlende Empathie

Für diese Arbeiten wurde sie vielfach angefeindet. In ihren Essays Über Fotografie von 1977 unterstellt Susan Sontag der Künstlerin Voyeurismus, Dominanz und fehlende Empathie. Sie ästhetisiere das Unangenehme, das Hässliche, stelle es dem Normalen gleich und raube so dem Leid seine moralische Dimension. Nur für jemanden, der behütet aufgewachsen sei, so Sontag, sei ein solcher Blick von oben herab auf »die anderen« möglich.

»Am liebsten gehe ich dorthin, wo ich noch nie war«, war einer der Lieblingssätze von Diane Arbus. In ihrer Fotografie zeigte sie ebenso einfühlsam wie schonungslos das Ungewohnte und Unangepasste. Die Berliner Ausstellung lädt dazu ein, der Künstlerin dorthin zu folgen, wo das Gewohnte brüchig wird, und da anzukommen, wo auch wir noch nie waren. Um mehr zu erfahren über das Vertraute, das Fremde, das Dazwischen – und über uns selbst.

Die Ausstellung »Diane Arbus: Konstellationen« ist bis 18. Januar 2026 im Gropius Bau, Niederkirchner­straße 7, in Berlin zu sehen.

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