Neuerscheinung

Tiefgekühlte Tradition

Auf Eis gelegt: Steve Sterns ironisiert den Umgang der US-Juden mit ihrer Tradition Foto: Frank Albinus

Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):

Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.

Als der 15-jährige Bernie Karp auf der Suche nach einem Stück Leber zu Masturbationszwecken ist, entdeckt er in der elterlichen Tiefkühltruhe einen vereisten Rabbiner. Ein Erbstück aus dem Schtetl, wie sich herausstellt, seit über 100 Jahren in Familienbesitz, unter großen Mühen von den Vorfahren mitgeschleppt nach Lodz, Manhattan und schließlich Memphis/Tennessee, wo der schockgefrostete Toragelehrte nun vom jungen Karp gefunden wurde. Nach einem Stromausfall aus Versehen aufgetaut und jetzt wieder am Leben, muss sich der weise Rebbe mit Bernies Hilfe in der modernen Welt zurechtfinden. Dazu schaut er im Wohnzimmer der Karps viele Stunden Fernsehen.

Der Gast aus dem 19. Jahrhundert ist keineswegs verwundert ob der Existenz eines Kastens, der bewegte Bilder von Dingen zeigt, die gar nicht da sind. Stattdessen gibt er abschätzige Kommentare über knapp bekleidete Tänzerinnen auf MTV von sich. Rasch findet der Rebbe auch seinen Platz in der Konsumgesellschaft. Er eröffnet im Shoppingcenter ein »Haus der Erleuchtung«, macht Kabbala zum Wellness-Wunder und verkauft an die Kinder Rabbi-Sammelkarten. Derweil wird Bernie, der eigentliche Protagonist des Buchs, immer spiritueller und orthodoxer, je kommerzieller sich der Rabbi gebärdet.

portnoy Steve Sterns Roman Der gefrorene Rabbi ist eine einigermaßen unterhaltsame Satire auf die »allrightniks«, die jüdische Mittelschicht der USA, der es nach den Entbehrungen der vorherigen Generationen mit der Assimilation gar nicht schnell genug gehen konnte. Wirklich originell ist das allerdings nicht. Philip Roth hat dasselbe Terrain vor 50 Jahren schon bearbeitet. Roth schwebt von der ersten Seite an durch das Buch: Auf die Idee mit der Leber-Onanie ist Bernie nämlich gekommen, nachdem er sich aus dem elterlichen Bücherregal Portnoys Beschwerden gemopst hat.

Eine nette kleine Hommage wäre das, würde Stern nicht aus irgendeinem Grund das Buch mit »ein Skandalroman aus den Sechzigern« umschreiben, statt einfach den Titel zu nennen. Wieso dieser alberne Aufwand? Um den Lesern, die die Anspielung auch ohne Hilfe verstehen, zu schmeicheln und zu imponieren? An solche Kundschaft scheint der Verlag ohnehin nicht wirklich zu glauben.

Ein Glossar am Ende des Buches (dem Vernehmen nach nur in der deutschen Fassung) erklärt nicht nur sinnvollerweise Begriffe wie »lamed wow’nik« oder »kiriyat avanim«, sondern auch »Kippa«, »Goi« und »Menora«. Das ist das Dilemma dieses Romans: Einerseits möchte er eine explizit jüdische Geschichte erzählen, andererseits auch die verehrten uneingeweihten Leser erreichen und nicht verschrecken.

Ausverkauf Dabei ist die Kernaussage des Buchs hart, wahr und auch unbequem: Es geht Stern um die Last und die Freuden der jüdischen Tradition. Was diese Tradition ist, zeigt der Autor in verstreuten Rückblenden auf den alten Kontinent, bis hin zur beschwerlichen Ankunft der Vorfahren in Amerika. Das mangelnde Bewusstsein für Religion und Riten beklagen gerade in den USA viele. Hier präsentiert sich diese Klage als enttäuschte Reaktion auf den Ausverkauf der eigenen Kultur.

Leider steckt diese bittere Einsicht in einem angestrengt drolligen Roman, der letztlich witz- und farblos ist – eine koschere Version von Sofies Welt als Reise in eine ach so fremde aber umso faszinierendere Kultur. Maxim Biller hat über ein ähnliches Druckwerk einmal geschrieben, dass »ein solches Buch zu erwerben, nicht zuletzt immer wieder eine hübsche Versöhnungsgeste« ist. Der gefrorene Rabbi könnte der Gewissenskauf der Saison für philosemitische Deutsche werden, zumal die Übersetzung durchaus gelungen ist. Den jüdischen Zweiflern aber, die jeden Freitagabend ein leichtes Stechen im Nacken spüren, hat Sterns Roman leider nicht viel zu sagen.

Steve Stern: »Der gefrorene Rabbi«. Übersetzt von Friedrich Mader. Blessing, München 2011, 496 S., 21,95 €

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Interview

»Erinnern, ohne zu relativieren«

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer über das neue Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung, Kritik an seiner Vorgängerin Claudia Roth und die Zeit des Kolonialismus in der deutschen Erinnerungskultur

von Ayala Goldmann  12.11.2025