Kino

Starträchtig und divers

Diese Woche kommen »Bones and All«, »Nelly & Nadine«, »Bleib bei uns« und »Zeiten des Umbruchs« ins Kino. Foto: Getty Images, imago images, AutoImagesArchive, Studiocanal GmbH / JP Burbaud

»Bones and All«
Gibt es eigentlich eine Popkulturgeschichte abgebissener Finger im Kino? Falls ja, müsste mit Luca Guadagninos Romanze Bones and All ein neues Kapitel hinzugefügt werden.

Man wundert sich zunächst, wieso Maren (einnehmend zurückhaltend: Taylor Russell) von ihrem eigentlich nett wirkenden Vater (André Holland) zum Schlafen in ihrem Zimmer eingesperrt wird, bis sich das schüchterne Mädchen für eine Übernachtungsfeier bei einer Schulkameradin herausschmuggelt und besagter Gastgeberin, als die ihr den frischen Nagellack zeigen möchte, das Fleisch von den Knochen nagt.

Das ist einer von nicht wenigen verstörenden Momenten in diesem Film, der im Ansatz an Julia Ducournaus Debüt Raw erinnern mag. Dort wie hier brachte ein abgekauter Finger eine Art – wenn man so will – kannibalisches Coming-of-Age in Gang, in dem es um Fragen zu Identität ging.

Aber die Geschichte, die Luca Guadagnino in seinem in den USA gedrehten Film erzählt, ist dennoch eine andere: eine Geschichte über gesellschaftliche Außenseiter im Reagan-Amerika der 80er-Jahre, ein queer angehauchter, Bonnie und Clyde-esker Road­trip mit einer jungen Liebe »to the bones and all«.

Marens Reise beginnt, als ihr Vater sie verlässt. Er hinterlässt ein Tape, auf dem er der Tochter von ihrer Menschenfresser-Entwicklung erzählt. Das Mädchen macht sich auf die Suche nach der Mutter, die sie nie kennengelernt hat, und damit auf eine Reise rund um die Frage: Wie mit ihrer Andersartigkeit umgehen?

Eine wichtige Erkenntnis: Sie ist nicht allein, es gibt noch weitere »Esser«. Etwa den kauzig von Mark Rylance gespielten Sully, der das Mädchen über Meilen hinweg erschnüffelt und ihm zeigt, wie er sterbende Menschen ausfindig macht und auf das Unausweichliche wartet.

Vor allem aber ist da der Drifter Lee (Timothée Chalamet), mit dem es schließlich durch verschiedene US-Bundesstaaten geht – auf der Suche nach sich selbst. Die Rolle ist Chalamet, Sohn einer New Yorkerin mit halb russischen, halb österreichisch-jüdischen Wurzeln, auf den Leib geschneidert und bekräftigt seinen Ruf als Gesicht einer hybriden neuen Männlichkeit. 2018 war er für seine Rolle in Call Me by Your Name als bester Hauptdarsteller mit einem Oscar ausgezeichnet worden.

Für Bones and All adaptiert Luca Guadagnino Camille DeAngelis’ gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2015 als emotionale Tour de Force, bei der Menschenfresserei und Menschlichkeit eng miteinander verbunden sind. Es ist der Idealismus einer Jugend, allen Widerständen zum Trotz, von dem Bones and All erzählt, ein Idealismus, dem der Glaube an das Schöne im Hässlichen und an die Bewegung nach vorn inhärent scheint.

Wie sich Guadagninos Film, der bei den Internationalen Filmfestspielen Venedig seine Premiere feierte, dabei selbst durch verschiedene Genres bewegt und am Ende ein Bild findet, in dem sich Liebe und Tod auf betörend verstörende Weise treffen, ist großes Kino. Jens Balkenborg

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»Nelly & Nadine«

Aus einer Menschenmenge der schwarz-weißen Bilder schält sich jene burschikose Frau heraus, über die die belgische Opernsängerin Nelly Mousset-Vos Folgendes in ihrem Tagebuch notiert hat: »Ihre Haare schwarz, ihre Haut aus Elfenbein, ihr Silberblick. Nadine.« Es sind Worte der Liebe. So kitschig und pathetisch es klingen mag: Die Liebe bringt Licht in Zeiten der schlimmsten Finsternis. Und was ist das für eine Finsternis, in der Nelly, die selbst in der Résistance aktiv war, und die chinesische Aktivistin Nadine Hwang einander näherkommen, sich lieben lernen: inmitten der Nazigräuel, im KZ Ravensbrück, wo sie sich 1944 kennenlernen.

Magnus Gerttens Dokumentarfilm Nelly & Nadine, der in der Sektion Panorama Dokumente auf der Berlinale mit dem Teddy Jury Award ausgezeichnet wurde, ist so schön wie erschreckend. Sein Film ist Teil einer Trilogie: Nach ihrer Befreiung aus dem KZ wurde unter Tausenden Überlebenden auch Nadine Hwang nach Schweden gebracht.

Die Ankunft der Menschen am 28. April 1945 in Malmö wurde fotografiert und gefilmt. Auf den Geschichten der Überlebenden beruhten auch die ersten Teile der Trilogie, Harbour of Hope und Every Face Has a Name.
Über ein Jahr hinweg hat der schwedische Regisseur nun Nellys Enkelin Sylvie auf eine sehr persönliche Reise in die familiäre Vergangenheit begleitet. In einer Kiste findet sie ein gut behütetes Familiengeheimnis. Darin: Dinge wie Nellys Tagebuch, Fotos, Liebesbriefe und Filmrollen, die Zeugnis ablegen von der lesbischen Liebe zwischen ihrer Großmutter und Nadine inmitten des Kriegshorrors. »Weißt du, wie oft ich schon versucht habe, Großmutters Tagebuch zu lesen? Ich habe es nie geschafft«, sagt Sylvie zu ihrem Mann, mit dem sie sich und ihr Handeln zwischendurch im Film immer wieder reflektiert.

In seinem Film montiert Gertten neben aktuellen Aufnahmen aus dem Bauernhaus der Enkelin stimmungsvolle Naturbilder, alte Fotografien sowie Super-8- und Audioaufnahmen. Und eben das zentrale Voiceover aus den so poetischen wie erschütternden Tagebucheinträgen Nellys. »Nadine, wird das jemals ein Leben für uns sein?«, fragt sie einmal.

Der Film wirft uns durch die Jahre. Auf das Kennerlernen im KZ-Ravensbrück folgt die Trennung, als Nelly ins KZ Mauthausen deportiert wird. Die Sängerin berichtet von den schrecklichen Bildern und Geschichten rund um jene Todesstiege in den Steinbruch »Wiener Graben«.

Wir erfahren auch von Nadines Leben vor dem Krieg. Als Chauffeurin und Geliebte von Natalie Clifford Barney, die regelmäßig den literarischen »Salon de l’Amazone« veranstaltete, genoss sie das Leben mit der Pariser Bohème. Später ist das Paar in Venezuela zu sehen, wohin es nach Kriegsende emigrierte und ein Leben in Freiheit mit einer queer angehauchten Clique genoss. Nelly & Nadine ist ein Film gegen das Vergessen und für die (freie) Liebe. Jens Balkenborg

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»Bleib bei uns«

Vor acht Jahren hat Gad Elmaleh, französisch-jüdischer Komiker, seinen gemeinsamen Sohn mit Charlotte Casiraghi (der Enkeltochter von Fürst Rainier von Monaco) katholisch taufen lassen. In der jüdischen Community hielt sich die Begeisterung darüber in Grenzen. In seinem neuen Film Bleib bei uns geht Elmaleh noch einen Schritt weiter. Oder nicht? Die Komödie hält die Spannung bis zum Schluss.

Elmaleh schildert als Regisseur und Hauptdarsteller ein inneres Dilemma. Der sefardische Jude, der 1971 im marokkanischen Casablanca geboren wurde und dort aufwuchs, fühlt sich schon viele Jahre vom Christentum angezogen. Heimlich besuchte er als Kind mit seiner Schwester Judith eine Kirche – seine Eltern, traditionelle Juden, hatten es streng verboten. Die Statue der Jungfrau Maria rührte den Jungen zu Tränen. Als fast 50-Jähriger kehrt Elmaleh nun zu seinen Eltern zurück, die inzwischen in Frankreich leben. Vor der Kamera stehen auch seine Mutter und sein Vater, Regíne und David Elmaleh, und seine Schwester, die bei der Inszenierung der Glaubenskrise bereitwillig mitwirken – jedenfalls zu Beginn.

Eigentlich wollte Gad ins Hotel ziehen, doch seine Mutter hat für ihn das frühere Kinderzimmer vorbereitet: »Bleib bei uns!« Dass etwas nicht stimmt, fällt ihr spätestens auf, als sie den Koffer ihres Sohnes durchwühlt und eine Marienstatue entdeckt. »Das ist nicht sein Koffer«, tröstet sich die Mutter. Später fragt sie den Vater: »Wusstest du, dass die Jungfrau Maria Jüdin war?« Doch als klar wird, dass Gad sich taufen lassen will, lässt sich der Familienkrach nicht aufhalten. »Such dir einen anderen Gott, andere Eltern, und lass dich adoptieren!«, empört sich Regíne Elmaleh, die gegen Ende des Films zu Hochform auflaufen wird.

Auch andere machen es Gad Elmaleh nicht leicht: Vor der Kirche, die er als Katechumene regelmäßig besucht, wird er von zwei Lubawitschern abgefangen, die ihn dazu bringen, Tefillin zu legen. Freunde und Verwandte versuchen verzweifelt, seine Motive zu ergründen: »Ja, unsere Rabbis sind bärtig, und in den Synagogen herrscht Chaos – bei ihnen (den Christen) ist es ordentlicher und hübscher. Bei uns liegt die Schönheit im Innern«, ereifert sich ein Cousin.

An Situationskomik und guten jüdischen Witzen herrscht in Bleib bei uns kein Mangel. Trotzdem hat die Geschichte – obwohl inszeniert – Tiefe. Wie zerrissen Gad Elmaleh ist, spiegelt ihm die Rabbinerin Delphine Horvilleur in einem echten Seelengespräch. Der Komiker beruft sich im Film auf den französischen Kardinal Jean-Marie Lustiger, der seine jüdischen Wurzeln nicht verleugnete. Trotzdem möchte man Gad Elmaleh bis zum Schluss immer wieder zurufen: »Bleib bei uns!« Ayala Goldmann

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»Zeiten des Umbruchs«
Mitte der 80er-Jahre im New Yorker Stadtteil Queens: Der aus einer jüdischen Einwandererfamilie stammende Paul Graff (Banks Repeta) lebt in seiner eigenen Welt. Der verträumte Junge hat eine künstlerische Ader. In großartigen, ironischen Zeichnungen hält er seine Wahrnehmungen fest. Seinen Lehrer, Mister Turkeltaub, zeichnet er etwa als Truthahn.

Seine Schulnoten sind mäßig, im Guggenheim-Museum blüht er hingegen auf. Er freundet sich mit dem afroamerikanischen Jungen Johnny (Jaylin Webb) aus der Unterschicht an. Gemeinsam zetteln sie Streiche an. Weil Pauls Eltern (in der Rolle der Mutter: Anne Hathaway) befürchten, dass ihr Junge in die Kriminalität abrutschen könnte, wird er auf eine höhere Schule versetzt. Doch Paul hält seinem Freund Johnny die Treue, wofür er von seinen Mitschülern der New Yorker High Society kritisch beäugt wird. Johnny und Paul träumen von einer besseren Zukunft. Irgendwann begehen sie einen Diebstahl, der ihre Zukunft besiegeln wird.

James Grays Spielfilm Zeiten des Umbruchs (Originaltitel: Armageddon Time), der bei den 75. Filmfestspielen in Cannes Premiere feierte, wirkt wie ein Lehrstück über soziales Gefälle in den USA. Die jüdische Familie Graff fühlt sich verfolgt und ist enttäuscht über die erste Wahl von Ronald Reagan zum US-Präsidenten. Dennoch geben die Eltern ihren Sohn in eine Privatschule, die vom Vater Donald Trumps geleitet wird. Fred Trump vertritt eine noch radikalere (neo-)liberale Ideologie als Reagan.

Rassismus zieht sich durch den ganzen Film, ebenso wie latenter Antisemitismus. »We have enough Spinowitz’ here«, wird der Schuljunge Paul belehrt. Seine Familie fängt ihn auf. Es sind auch diese Bilder einer Einwandererfamilie zwischen Assimilation (der Name wurde von Greizerstein zu Graff geändert), jüdischer Tradition und der zum Teil rigiden Vermittlung von Werten, die im Film beeindrucken. Jeremy Strong überzeugt in der Rolle des strengen Vaters. Großvater Aaron (Anthony Hopkins) wird seinem Enkelsohn Paul ein Versprechen abnehmen: »Sei du immer ein Mensch!«

Gray zeigt in dem Coming-of-Age-Drama seine persönliche Wahrnehmung des Aufwachsens als Jude in den USA. Zeiten des Umbruchs ist die Geschichte seines Erwachsenwerdens. Es geht mit dem Verlust von Träumen einher, die einer Erkenntnis der Realität weichen: In den USA bringen es diejenigen weit, die aus gesicherten finanziellen Verhältnissen kommen. Der Film ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus – und dem Fluch und Segen der eigenen Herkunft. Ein poetischer Film, dem man fasziniert zusieht, bitter und tröstlich zugleich. Emma Appel

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