Ron Segal

»Sie können jeden Moment kratzen«

Der Autor über seinen neuen Roman »Katzenmusik«, einen Marathonlauf und viele einsame Kollegen

von Katrin Richter  03.09.2022 20:45 Uhr

Der Buchautor Ron Segal. Foto: Stephan Pramme

Der Autor über seinen neuen Roman »Katzenmusik«, einen Marathonlauf und viele einsame Kollegen

von Katrin Richter  03.09.2022 20:45 Uhr

Herr Segal, wäre die Welt eine bessere, wenn sie von Katzen regiert werden würde?
Diese Frage ließe sich vielleicht ganz gut in Japan beantworten, denn dort gibt es eine Insel, Aoshima, die fast ausschließlich von Katzen bewohnt wird. Ich würde diesen Ort sehr gern einmal besuchen. Tel Aviv und Jerusalem sehen ja fast genauso aus.

Was hat Sie so an den Tieren fasziniert, dass sie die eigentlichen Hauptdarsteller Ihres neuen Romans »Katzenmusik« sind?
Katzen sind unsere lieben YouTube-Helden, aber sie können dich auch jeden Moment kratzen. Und diese hauchdünne Linie, die finde ich interessant. Im Buch wollte ich diese Abermillionen Videos mit Alfred Hitchcocks »Die Vögel« mischen. Und: Ich habe mich von dem Buch »Das Tier, das ich also bin« des französischen Philosophen Jacques Derrida inspirieren lassen. Darin beschreibt er eine Szene, in der er duscht und seine Katze kommt herein und beobachtet das Geschehen. Plötzlich schämt er sich, dass seine Katze ihn sieht, und dann schämt er sich erneut, dass er sich dafür geschämt hat. Die Frage nach dieser zweiten Scham hat mich also beschäftigt. Auch deswegen habe ich ein Zitat aus dem Buch meinem vorangestellt. Derrida bestand übrigens darauf, dass es sich bei der Katze um seine wirkliche handelte, aber natürlich ist klar, dass es eine metaphorische, eine allegorische Katze ist. Dieses Tier konnte den Menschen also so sehen, wie er ist, nackt; es konnte sozusagen die Wahrheit sehen, also wollte ich es freilassen, um zu sehen, was die Katze außer der Nacktheit ihres Besitzers noch alles sieht.

Das Buch beginnt mit einem Unfall. Ein Vespafahrer fährt einen Kater an…
… der Vespafahrer, dessen Namen wir noch nicht kennen, denkt, dass sein ganzes Leben ein Unfall ist. Dinge passieren ihm, er versucht, darauf zu reagieren, zu leben. Er trifft keine großen Entscheidungen.

Seinen Namen kennen wir noch nicht, wohl aber den des Katers, Abel. Weshalb dieser Name?
Das ist zugegebenermaßen ein bisschen »Lost in Translation«, denn Abel heißt im Original »Hevel«, und das hebräische Wort Hevel heißt auch »Nichts«. Denn für den Vespafahrer ist vieles nicht wichtig oder unsinnig. Was ist schon ein Name? Etwas Vergängliches, so wie das Leben auch. Kains Bruder heißt Abel, aber Kain und Hevel funktionierte in der Übersetzung nicht, daher Abel. Ich war mir dessen bewusst, dass es damit schwierig werden würde. Etwas geht immer verloren, aber etwas wird auch immer gewonnen.

»Katzenmusik hat im Deutschen eine doppelte Bedeutung: einmal das schlichte Miauen vieler Katzen, aber auch etwas, das nicht stimmt, Gejaule.«

Ron Segal

Was haben Sie durch die Übersetzung gewonnen?
Den Titel zum Beispiel. Katzenmusik. Im Original heißt es »Die Musik der Katzen«. Dieses Geräusch, dieser Klang, wie Sirenen für die einen, wie Musik für die anderen. Katzenmusik hat im Deutschen eine doppelte Bedeutung: einmal das schlichte Miauen vieler Katzen, aber auch etwas, das nicht stimmt, Gejaule.

Zurück zum Vespafahrer. Wir wissen, dass er Eli heißt. Eli Ehrlich. Wer ist er, der plötzlich diesen Kater bei sich aufnimmt?
Er ist ein Jedermann. Er glaubt nicht, dass das, was im Land passiert, dass die große Politik irgendetwas mit ihm zu tun hat. Er läuft an einer neuen Mauer entlang und sieht sie nicht. Er ist einsam, er führt sein kleines Leben und fragt nicht viel.

Die Geschichte spielt in Jerusalem kurz nach Ende des Sechstagekriegs 1967.
Man sah in dieser Zeit das Triumphale. Stellen Sie sich vor, dass Deutschland innerhalb von sechs Tagen seine Größe verdreifachen würde. Es war der kürzeste Krieg Israels mit den am längsten anhaltenden Folgen.

Sie sind 1980 geboren. Welche Rolle hat die Zeit des Sechstagekriegs in Ihrer Kindheit gespielt?
Ich kenne das nur als einen guten Krieg, als einen Sieg. Ich habe Videos gesehen, die aufgrund der Kürze des Krieges später nachgestellt wurden. Und das finde ich schon irre. Wir sind Teil dieser Nachstellung. Als Kind und Jugendlicher hatte ich gar kein großes Interesse daran, es war auch kein großes Thema in der Schule.

Wie nehmen Sie die Situation in Nahost wahr?
Auf der einen Seite bin ich daran gewöhnt. Meinen ersten Krieg habe ich im Alter von zwei Jahren mitbekommen, als ich zehn war, musste ich mit einer Gasmaske im Keller sitzen, weil Saddam Hussein Raketen auf Israel geschossen hat. Ich habe keine Panik mehr. Es gab vor einigen Jahren eine Operation in Gaza. Ich war zu diesem Zeitpunkt in Tel Aviv und es gab Alarm. Alle rannten in die Schutzräume. Ich lief auch, aber ich dachte, ich laufe in meinem Tempo. Was natürlich dumm ist, aber es zeigt, wie sehr ich mich daran gewöhnt hatte.

Reisen wir mal etwas zu Ihren Anfängen in Berlin. 2009 hatten Sie mit einer Aktion auf sich aufmerksam gemacht, die »Run 4 Me« hieß. Sie liefen für den von der Hamas entführten Soldaten Gilad Schalit.
Ich hatte vor, in Israel einen Marathon zu laufen. Hatte mich aber auch gleichzeitig für ein DAAD-Stipendium beworben. Und ich dachte, wenn ich das Stipendium bekomme, dann muss ich auch etwas dafür geben. Für mich war das selbstverständlich. Denn wenn wir schon über das Aufwachsen in den 80er-, 90er-Jahren gesprochen haben: Ich bin mit dem Namen und der Geschichte von Ron Arad groß geworden. Er war Pilot und verschwand im Libanon-Krieg. Niemand weiß bis heute wirklich, was mit ihm geschehen ist. Dann gab es noch Nachshon Wachsman, der von der Hamas entführt und ermordet wurde. Und eben Gilad Schalit: An dem Tag des Marathons war Schalit 1138 Tage in Gefangenschaft. Also wollte ich 1138 Menschen zusammenbekommen, die für ihn rennen, die auf sein Schicksal aufmerksam machen sollten. Ich war ganz neu in Berlin, konnte kaum Deutsch und hatte keine große Ahnung. Letztendlich kamen 3000 oder 4000 Menschen zusammen. Vielleicht hat es den Eltern ein wenig geholfen, dass es dort in Berlin so eine Aktion gab, denn sie haben um ihr Kind wirklich gekämpft.

Wie haben Sie die Freilassung Gilad Schalits erlebt?
Es war eine große Freude. Es war eine Art Katharsis.

Laufen Sie noch?
Ja, ab und an, aber keinen Marathon mehr. Das war mein erster und letzter Marathon. Er ist auch nicht so gesund, habe ich im Nachhinein festgestellt. Ich hatte vorher schon Schmerzen im Knie und sollte Cortison bekommen, und dann war es wie bei Janosch: kleine Spritze, blauer Traum und nichts gemerkt und Marathon geschafft. Joggen ja, aber Marathon nein.

»Israel ist meine Heimat, aber Berlin ist mein kleines Zuhause.«

Ron Segal

Sie leben seit vielen Jahren in Berlin. Was mögen Sie an der Stadt?
Diese Frage stelle ich mir selbst auch noch oft. Ich glaube, es gibt nur eine Heimat. Einen Plural von Heimat gibt es nicht. Dafür muss es ja einen Grund geben. Mein Vater zum Beispiel ist in Rumänien geboren. Im Alter von fünf Jahren kam er nach Israel. Er würde niemals sagen: »Rumänien ist meine Heimat«. Ich kam mit 29 nach Deutschland, deshalb sage ich: Israel ist meine Heimat, aber Berlin ist mein kleines Zuhause. Meine Großeltern mütterlicherseits mussten aus Berlin fliehen. Von daher ist mein Umzug auch eine Art Rückkehr. Meine Kinder und meine Großmutter sind echte Berliner. Dazwischen liegen 100 Jahre. Meine Großmutter hat auch noch die Zeremonie für die Stolpersteinverlegung für ihre Familie miterleben können.

Was ist Ihre literarische Heimat?
Ich bin ein großer Fan von Friedrich Dürrenmatt. J. M. Coetzee zählt zu meinen Lieblingsautoren. Vor Kurzem habe ich zu Hause eine ganz alte Tasche von mir gefunden. Darin lagen Kurzgeschichten, die ich geschrieben habe, als ich gerade einmal sechs Jahre alt war. Ich dachte: Wer hat mich damals beeinflusst? Vielleicht der Film »Die unendliche Geschichte«? Als junger Mann haben mich Franz Kafka und Edgar Allan Poe geprägt.

Und welche israelischen Autoren sind Ihnen wichtig?
Es gibt diese drei bedeutenden Schriftsteller in Israel: Amos Oz, David Grossman und Abraham B. Jehoschua. Als Letzterer kürzlich starb, dachte ich, dass ich dieses Buch, was schon seit Erscheinen auf meinem Tisch lag, endlich mal lesen müsste. Es war überwältigend. Und ich habe mich gefragt, warum ich es vorher nicht schon gelesen hatte. Was für ein Geschichtenerzähler. Ich mag diese Kombination aus Symbolik, Metaphern und Realismus. Das war die Gründergeneration. David Grossman zählt zwar nicht mehr so ganz dazu, aber er ist ein so sympathischer Mensch. Ich habe ihn mal getroffen.

Erzählen Sie mal!
Wir waren auf dem gleichen Literaturfestival, und er hat das Festival natürlich eröffnet. Seine Tochter lebte damals in Berlin, und beide kamen zu meiner Lesung. Nach der Lesung fand er ganz wundervolle Worte, das hat mich sehr gerührt. Unser Beruf ist so einsam. Ich habe ja eigentlich Millionen Kollegen, die ich nicht kenne, nur aus den Büchern. Und dann kommt jemand, der dir sagt: Das hast Du gut gemacht, und dieses Lob fand ich ungeheuer wichtig. Das ist nicht selbstverständlich. In jedem Beruf braucht man so etwas.

Mit dem Autor sprach Katrin Richter. Ron Segal: »Katzenmusik«, Secession Verlag, Berlin 2022, 236 S., 22 €

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