Roman

Rückkehr zu den Träumen der Jugend

Roman

Rückkehr zu den Träumen der Jugend

Mit »Unterwegs nach Chevreuse« knüpft der Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano an ein früheres Werk an

von Peter Henning  31.07.2022 08:25 Uhr

»Seit einiger Zeit dachte Bosmans an gewisse Episoden seiner Jugend, folgenlose, jäh abgebrochene Episoden, namenlose Gesichter, flüchtige Begegnungen. Das alles gehörte zu einer fernen Vergangenheit, doch weil diese kurzen Sequenzen nicht verbunden waren mit dem Rest seines Lebens, blieben sie in der Schwebe, in einer ewigen Gegenwart. Er würde nicht aufhören, sich Fragen zu stellen.«

So hieß es zu Beginn von Patrick Modianos 2010 auf Deutsch erschienenem Roman Der Horizont über dessen Protagonisten Jean Bosmans, einen angehenden Schriftsteller, der Erklärungen suchte für das plötzliche Verschwinden seiner Geliebten Margaret Le Coz. Und mit jedem weiteren Versuch, Margaret aufzuspüren, trieb es ihn seinerzeit weiter zurück in seine als verloren empfundene Jugend.

PROUST Nun – zwölf Jahre später – wendet Modiano sich im Rahmen seines gerade auf Deutsch erschienenen neuen Kurzromans Unterwegs nach Chevreuse noch einmal jenem Bosmans zu. Und was als Versuch beginnt, jene »jäh abgebrochenen Episoden« von einst endlich zu einem stimmigen Ganzen zusammenzufügen, das weitet Modiano auf seine ganz eigene, ja, einzigartige Weise in wahrhaft Proustscher Manier zu einer poetischen Suche nach der verlorenen Zeit.

Tatsächlich gestattet sich Modiano, der Prousts Jahrhundert-Werk explizit im Text erwähnt, darüber hinaus einen weiteren Hinweis auf seinen Landsmann, indem er das Chevreuse-Tal zu einem der Schauplätze macht – und damit unverhohlen auf die im dritten Band von Prousts Recherche, Die Welt der Guermantes, erwähnte Madame de Chevreuse anspielt.

Und wie in all seinen wunderbar schwebenden, um markante Leerstellen in den Biografien seiner Stellvertreterfiguren kreisenden Vorgängerromanen inszeniert Modiano auch sein neues Buch als detektivische Suche seines Helden nach verschwundenen Personen, verlassenen Orten seiner Jugend und Verbindungspunkten zwischen ihnen, um darüber endlich Klarheit zu erlangen, wie und weshalb Bosmans der wurde, welcher er heute ist.

CHEVREUSE-TAL Diesmal kreist alles um jenes besagte Chevreuse-Tal fernab von Paris, von dem ausgehend sich für Bosmans nach und nach seine Vergangenheit noch einmal vor ihm auftut, als er die geheimnisvolle Camille kennenlernt, die den Spitznamen »Totenkopf« trägt und ihn auf gewundenen Wegen dorthin zurückführt. Und damit an seine biografischen Anfänge.

Das Lesen seiner Romane mutet an wie das Blättern in staubigen Büchern und vergilbten Fotoalben.

»Chevreuse. Der Name würde vielleicht andere Namen anziehen, wie ein Magnet. Bosmans sagte leise ›Chevreuse‹ vor sich hin. Und wenn er den Faden in der Hand hielt, der ihm erlaubte, eine ganze Spule zu kriegen? Doch warum Chevreuse?«

Wie stets bei diesem Autor entwickelt sich auch Bosmans’ Spurensuche zu einer folgenreichen Expedition in seine nicht abschließend geklärte Vergangenheit. Denn Schreiben heißt für Modiano vor allem: sich erinnern! An Menschen, die vor langer Zeit seinen Weg kreuzten und verschwanden, an Orte, an denen er lebte – und an ein anderes, früheres Paris, das wiederkehrend zur Kulisse seiner poetischen Suchbewegungen wird.

So mutet das Lesen seiner Romane an wie das Blättern in staubigen Büchern und vergilbten Fotoalben, um jenen auf die Spur zu kommen, die auf oftmals undurchsichtige Weise mit seinem Leben verbunden waren. Unterwegs nach Chevreuse ist, das nur ganz nebenbei, einer seiner schönsten, anmutigsten geworden!

Doch was haben die Wohnung in Auteuil und das Haus in Chevreuse, in das es ihn an der Seite von Camille und einer gewissen Martine Hayward verschlägt, miteinander zu tun? Und in welchem Verhältnis stehen die Leute, die Camille »das Netz« nennt – und die dort offenbar krummen Geschäften nachgehen, zu ihm selbst?

KINDHEITSERINNERUNGEN »Du sagst dir, wenn du tiefer gräbst, dann wirst du dich wundern, weil du Verbindungen entdeckst zu Personen, von deren Existenz du nichts geahnt oder die du vergessen hattest. Aber wenn es um Kindheitserinnerungen geht, muss man misstrauisch sein. Doch in den letzten Tagen brachte sich eine Vergangenheit wieder in Erinnerung. Eine Vergangenheit, die er längst vergessen hatte.«

So ist Patrick Modiano mit Unterwegs nach Chevreuse erneut ein Roman geglückt, wie nur er ihn zu schreiben vermag: ein kunstvoll in sich verspiegeltes, von zahllosen einander überlagernden Echos erfülltes Buch, das uns einmal mehr auf faszinierende Weise die enge Beziehung zwischen Erinnerung und Vergessen vor Augen führt. Und dass Geschichte nie zu Ende ist – und wir nur ein paar Schritte zurückgehen müssen, damit alles wieder da ist: unsere Jugend, und unsere Träume. Und jene, die wir einst liebten und verloren.

Patrick Modiano: »Unterwegs nach Chevreuse«. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, Mün­chen 2022, 160 S., 22 €

Kulturkolumne

Was bleibt von uns?

Lernen von John Oglander

von Sophie Albers Ben Chamo  25.11.2025

Kultur

André Heller fühlte sich jahrzehntelang fremd

Der Wiener André Heller ist bekannt für Projekte wie »Flic Flac«, »Begnadete Körper« und poetische Feuerwerke. Auch als Sänger feierte er Erfolge, trotzdem konnte er sich selbst lange nicht leiden

von Barbara Just  25.11.2025

Jüdische Kulturtage

Musikfestival folgt Spuren jüdischen Lebens

Nach dem Festival-Eröffnungskonzert »Stimmen aus Theresienstadt« am 14. Dezember im Seebad Heringsdorf folgen weitere Konzerte in Berlin, Essen und Chemnitz

 25.11.2025

Hollywood

Scarlett Johansson macht bei »Exorzist«-Verfilmung mit

Sie mimte die Marvel-Heldin »Black Widow« und nahm es in »Jurassic World: Die Wiedergeburt« mit Dinos auf. Nun lässt sich Scarlett Johansson auf den vielleicht düstersten Filmstoff ihrer Laufbahn ein

 25.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  24.11.2025

Nachruf

Das unvergessliche Gesicht des Udo Kier

Er ritt im Weltall auf einem T-Rex, spielte für Warhol Dracula und prägte mit einem einzigen Blick ganze Filme. Udo Kier, Meister der Nebenrolle und Arthouse-Legende, ist tot. In seinem letzten Film, dem Thriller »The Secret Agent«, verkörpert er einen deutschen Juden

von Christina Tscharnke, Lisa Forster  24.11.2025

TV-Kritik

Viel Krawall und wenig Erkenntnis: Jan Fleischhauer moderiert im ZDF den Kurzzeitknast der Meinungen

Mit »Keine Talkshow - Eingesperrt mit Jan Fleischhauer« setzt das ZDF auf Clash-TV: ein klaustrophobisches Studio, schnelle Schnitte, Big-Brother-Momente und kontroverse Gäste - viel Krawall, wenig Erkenntnis

von Steffen Grimberg  24.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  24.11.2025

Nürnberg

»Tribunal 45«: Ein interaktives Spiel über die Nürnberger Prozesse

Darf man die Nürnberger Prozesse als Computerspiel aufarbeiten? Dieses Spiel lässt User in die Rolle der französischen Juristin Aline Chalufour schlüpfen und bietet eine neue Perspektive auf die Geschichte

von Steffen Grimberg  24.11.2025