Für Menschen wie mich, die Claus Peymann erst in seiner Spätphase, während der Intendanz am Berliner Ensemble begegneten, war er Meteorit: ein Theatermacher, wie aus einer anderen Galaxie auf die Theatererde geschleudert, dunkel schillernd, mit seltsamer Energie gefüllt.
Eine der vitalsten Begegnungen mit Peymanns Kunst hatte ich an ganz unvermuteter Stelle: 2008 in Leipzig, in einer radikal frei improvisierenden Fassung der »Publikumsbeschimpfung« von Peter Handke, spielte der Regisseur Sebastian Hartmann minutenlang Bilder der legendären Uraufführung von Claus Peymann am Frankfurter Theater am Turm anno 1966 ein: Junge Männer in Bundhosen und aufgekrempelten Hemden sah man dort, wie sie chorisch einem bürgerlichen Publikum Sätze wie »Sie werden kein Schauspiel sehen. Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden« auf den Kopf hämmerten.
»Publikumsbeschimpfung«
Hartmann, aus dem Kosmos der Berliner Volksbühne mit ihrer entgrenzenden Spielwut hervorgegangen, und Peymann, der das Berliner Ensemble nach der Jahrtausendwende als vergleichsweise gediegenes Erzähltheater ausgerichtet hatte, waren eigentlich geradezu Antipoden. Aber in diesen grobkörnigen Schwarzweißbildern der Frankfurter »Publikumsbeschimpfung« konnte man doch eine Nähe verspüren: etwas Aufgerautes, Kraftmeierndes, Bürgerschreckhaftes, das den Glutkern des Peymann-Theaters in seinen besten Jahren ausgemacht hatte.
Nach seinen Anfängen in Frankfurt schloss sich der gebürtige Bremer (Jahrgang 1937) in den 1970er Jahren kurzzeitig der Schaubühne von Peter Stein in Berlin an. Aber für zwei Platzhirsche wurde das Revier bald zu eng. 1974 übernahm Peymann in Stuttgart seine erste Schauspieldirektion und profilierte sich als einer der störungsfreudigsten Theatermacher des Landes. Als Skandal sondergleichen ging seine Spendensammlung für eine Zahnbehandlung der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin in der JVA Stammheim in die Annalen ein. Peymann katapultierte wie kein zweiter das Theater in die Mitte der Tagesdebatte, eckte an, holte sich Blessuren, die er wie Trophäen herzeigte, blieb aufrecht und unbeirrbar.
»Heldenplatz« geriet 1988 zum Jahrhundertereignis
Nach Stuttgart gelangte er über das Schauspielhaus Bochum (1979 bis 1986) ans Wiener Burgtheater. Es wurde der Ort seiner Vollendung, eine Dekade in größter Intensität und voller Spannungen: innerhalb des Ensembles, mit der Stadt, mit dem österreichischen Konservativismus. Peymanns Uraufführung von Thomas Bernhards Tirade wider die NS-Verdrängungskultur »Heldenplatz« geriet 1988 zum Jahrhundertereignis. Presse und Establishment wollten den »Piefke« lieber heute als morgen vom Hof jagen, aber er blieb bis 1999. Und feierte Erfolge: mit allein vier Theatertreffen-Einladungen für eigene Regiearbeiten, mit eng vertrauten Ausnahmespielern und -spielerinnen wie Gert Voss, Ignaz Kirchner oder Kirsten Dene, und mit beispiellosem Gespür für herausragende Gegenwartsautoren und -autorinnen wie Thomas Bernhard, Peter Turrini oder Elfriede Jelinek. Als regieführender Intendant gab er den Takt vor, und ließ doch auch prägende Theatermacher dieser Jahre wie Peter Zadek oder George Tabori neben sich gelten.
Zugleich verkörperte Peymann in Reinkultur das heute nurmehr anachronistisch anmutende Image des harten Knochens: »Wenn in den Kopf eines Schauspielers nicht hineinwill, was ich mir vorgestellt habe, wende ich die bedingungsloseste und brutalste Gewalt an. Das geht von Gebrüll bis zu Mord und Totschlag. Ich breche den Widerstand, und ich weiß, dass es andere Regisseure genauso machen«, sagte Peymann in einem der berüchtigt offenen Interviews mit dem Gesprächsvirtuosen André Müller für die »Zeit«. Der Grat war bei Peymann stets schmal: zwischen Despotie und Wahnwitz, Genie und Groteske, Demut vor der Kunst, Rückgrat gegen die Politik, Ranschmiss ans Publikum, Verachtung für alle, die ihn scheinbar missverstanden.
Für das Berliner Ensemble ab 1999 versprach Peymann dann der »Reißzahn im Arsch der Mächtigen« zu werden, aber es fühlte sich doch nach Altenteil an. Der Publikumszuspruch war rasend wie je; Robert Wilson füllte mit musicalhaften Hochglanzabenden die Hütte, befeuert von Pop-Größen wie Herbert Grönemeyer oder Lou Reed. Auch Leander Haußmann fand am BE eine neue künstlerische Heimat. Peymann selbst entdeckte und unterstützte weiterhin besondere Spieler wie den jungen Sabin Tambrea. Aber die Zeit war vorangeschritten; den Beat gaben andere vor, die Volksbühne, das Maxim Gorki Theater.
Peymann wurde als Person zum größten Ereignis seines Hauses
So wurde Peymann schließlich als Person zum größten Ereignis seines Hauses. Eine Figur, wie dem deutschen Lustspiel eines Heinrich von Kleist entstiegen: unzeitgemäß, ungehobelt, auf ruppige Art liebenswert. Unvergessen bleiben der possenhafte Dauerstreit um den BE-Mietvertrag mit dem Dramatiker Rolf Hochhuth, seine polternden Interviews, seine harte Kante gegen Kulturpolitiker vom Schlage eines Tim Renner, die Peymann als kulturlos empfand. Wer den Theatermacher gemeinsam mit seinem getreuen Dramaturgen Hermann Beil mitunter selbst als Spieler auf der Bühne stehen sah, fand hier ein geborenes Theatertier, einen Entertainer durch und durch, launig und bissig. Thomas Bernhards größenwahnsinniger Charakterkopf Bruscon aus dem »Theatermacher« schien Peymann wie auf den Leib geschrieben.
Dass der Theatermensch Claus Peymann in den letzten Jahren vor seinem Tod am 16. Juli 2025 wegen einer schweren Krankheit zurückgezogen lebte, am Stadtrand in Berlin-Köpenick, lässt sich kaum vorstellen. Seine Energie schien unerschöpflich, seine Jugendlichkeit unverbrüchlich. Ein Kraftstrotzender, Halbstarker, ein ewig großer Junge schien er zu sein. Als nachtkritik.de, das Theaterportal, für das ich arbeite, ihn zum Auftakt der Internet-Konferenz »Theater und Netz« noch im hohen Alter zur »re:publica« schickte, kam Peymann angefüllt mit Utopie zurück, voll Hunger auf den in der Netzgemeinde gelebten subkulturellen Geist. So wird er in Erinnerung bleiben: als Widerständiger, Suchender, feurig Liebender der Kunst, ein nie erschöpfter, unerschöpflicher Herrscher des Theaters.
Der Autor ist Redakteur bei www.nachtkritik.de