NS-Geschichte

Massenhafte individuelle Schuld

Historiker Hans Mommsen Foto: ddp

Die Auslöschung des Judentums in Europa geht auf das Konto der deutschen Nationalsozialisten und ihrer Helfershelfer in den von der deutschen Wehrmacht besetzten Gebieten. Hans Mommsen bezeichnet in seinem Buch Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa »die Zahl der an den Mordaktionen direkt beteiligten Personen mit 200.000 als nicht zu hoch gegriffen, während die Zahl der am Genozid indirekt beteiligten deutschen Staatsbürger ein Vielfaches davon betrug«.

Folgten sie alle – vielleicht sogar nur unter Zwang – verbrecherischen Befehlen, die auf Hitler zurückzuführen waren, oder handelten sie überwiegend aus einer gleichgeschalteten menschenverachtenden Ideologie? Und wie konnte das deutsche Volk dieses Morden zulassen und sich sogar oftmals durch Denunziation in den Dienst des Verbrechens stellen oder durch persönliche Bereicherung zu Hehlern und Nutznießern machen lassen?

Holocaust Mommsen, der 15 Jahre alt war, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, ist ein streitbarer Historiker. Er hat als einer der Ersten den Blick von Hitler als zentralem Verursacher und Verantwortlichen für den Holocaust auf die Vielzahl der Täter, Helfer, Mitwisser, Ermöglicher und Nicht-Verhinderer des Völkermords an den europäischen Juden gelenkt. In seinem neuen Buch fasst er unter diesem Gesichtspunkt die Ergebnisse eigener Forschungen und das in den letzten Jahrzehnten angesammelte Wissen über die Vernichtungspolitik der Nazis zusammen.

Er beginnt mit dem Antisemitismus in der Weimarer Zeit und den unterschiedlichen Ausprägungen dieser Ideologie in den verschiedenen Flügeln der NSDAP. Er stellt die Entstehung der »Nürnberger Gesetze« als Tauziehen zwischen den beteiligten Staatsministerien und den radikalen Untergliederungen der NSDAP dar. Hitler sei dabei zwar der antisemitische Einpeitscher, nicht aber der Verfechter der radikalsten Gestaltung dieser Gesetze gewesen und habe auch in der Folgezeit eine Ausweitung des Begriffs »Jude« im Rahmen der Nürnberger »Bruchrechnung« (»Halbjude«, »Vierteljude«, »Mischling ersten Grades« usw.) nicht ausdrücklich gebilligt.

Bis zum Ausbruch des Krieges sei das Hauptziel der Nazis gewesen, alle Juden aus Deutschland zur Auswanderung zu bewegen. Die dazu erforderlichen Mittel waren ihnen aber durch administrative Maßnahmen und rechtswidrige Gesetze entzogen worden. Ausführlich diskutiert Mommsen das sogenannte Madagaskar-Projekt, das noch bis zu der Erkenntnis in der NSDAP virulent war, dass die zum Transport von Hunderttausenden von Juden erforderliche Seeherrschaft nach dem Verlust der Luftschlacht um England nicht mehr zu erringen war.

Umschwung Nach dem Überfall auf die Sowjetunion trat dann ein entscheidender Umschwung ein: Während offiziell immer noch von »Umsiedlung«, sprich: Deportation, vor allem der osteuropäischen Juden »hinter den Ural« die Rede war, begann der Rassenvernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, in dessen ersten vier Monaten über 500.000 osteuropäische Juden von Einsatzgruppen, Polizeieinheiten, von der SS, aber auch von Wehrmachtseinheiten ermordet wurden. Das geschah ohne ausdrücklichen »Führerbefehl«.

Die irrationale Gleichsetzung von »Judentum« und »Bolschewismus« gab den ideologischen Hintergrund für die völkerrechtswidrige Kriegführung und die auch individuelle Kriminalität ab, die sich in einer »schubweisen, unglaublichen Brutalisierung« entlud, der sich Hunderttausende Deutsche schuldig machten.

Die auf der Wannsee-Konferenz beurkundete »Endlösung«, die zum eigentlichen, irrsinnigen Kriegsziel wurde, wurde auf dem Fundament der im Osten eingeübten Brutalität zu einer bürokratisch organisierten, in der Geschichte tatsächlich als singulär zu bezeichnenden Steigerung der nationalsozialistischen Gewaltideologie.

Kenntnis Wenn Mommsen in seiner Darstellung vor allem den europäischen Osten in den Blick nimmt, die Vernichtung der französischen, niederländischen, ungarischen und jugoslawischen Juden nicht ausführlich behandelt und auch die Rettung des Großteils der dänischen und bulgarischen Juden nicht erwähnt, wird er in dieser Hinsicht dem Titel seines Buches nicht gerecht. Sein Anliegen, die Schuld von den Hauptkriegsverbrechern und Hitler sowie einer Handvoll Schergen auch auf die vielen Ausführenden zu verteilen, verfolgt Mommsen dagegen mit umfassender Kenntnis der Vorgänge.

Gerade ist das deutsche Gewissen durch das Buch Die Schlafwandler von Christopher Clark von der Alleinschuld für die Entfesselung des Ersten Weltkriegs befreit worden, da lädt Hans Mommsen den Deutschen mit seinem Buch neue, nicht kollektive, aber massenhafte individuelle Schuld für die Auslöschung des Judentums in Europa auf. In beiden Fällen handelt es sich wohl um eine notwendige Korrektur der geschichtlichen Wahrnehmung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Hans Mommsen: »Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa«. Wallstein, Göttingen 2014, 234 S., 19,90 €

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025