Kindergeschichte

Lauter gute Taten

Wenn der junge Rabbinerassistent den kleinen Tim besuchte, freute sich die Mama sehr. Der angehende Rabbiner war so groß wie ein Basketballspieler und hatte Oberarme, so dick wie ein Tischbein. Tims Mutter stand in der Küche und backte gefüllte
Kartoffeltaschen. Unruhig schob sie die Gardine zur Seite, bis sie endlich den jungen Mann kommen sah. Alexander Smokdunowski, so hieß er, kam mit einem Motorroller angebraust und befreite sich aus seinem Overall.

Dann stieg er die Treppe hinauf und läutete an der Türglocke. Die Mutter machte auf, und hinter ihr stand auch schon Tim, der sich ebenfalls auf den wöchentlichen Besuch freute. Herr Smokdunowski ist nämlich der Religionslehrer. Jeden Mittwochnachmittag um fünf macht er halt bei Tim und unterrichtet den neunjährigen Jungen. Tims Mutter ist auch immer da und schaut ihnen verträumt zu.

So richtig viel hat Tim bis jetzt noch nicht bei ihm gelernt. Die hebräischen Buchstaben sind ihm langsam geläufig, aber etwas vorzulesen, nein, das ist noch zu schwer. Über die jüdischen Feiertage ist Tim allerdings im Bild. Am liebsten – na klar – mag er Chanukka. Letztes Jahr ist der Rabbinerassistent sogar zum Lichterzünden bei Tims Eltern geblieben.

Geldschein Am liebsten mag es Tim aber, wenn Herr Smokdunowski Rabbinergeschichten erzählt, vor allem vom Lubawitscher Rebben. Dann lebt sein Religionslehrer richtig auf. So auch heute. Herr Smokdunowski erzählt Tim gerade, wie der Rebbe jeden Morgen den Menschen nach dem Beten einen Geldschein gegeben hat. Sie durften damit aber keinen Donut kaufen, sondern mussten eine Mizwa tun.

»Und wir, lieber Tim«, fährt er fort, »wir machen etwas Ähnliches. Du weißt ja, dass bald Rosch Haschana ist. Und was macht der Ewige da?« – »Er zählt nach, ob ich mehr gute oder schlechte Taten getan habe. Wenn ich mehr gute als schlechte Taten habe, schreibt er mich ins gute Buch ein. Sonst ins schlechte.« »Richtig, Tim, sehr gut. Und nun gebe ich dir ein Dutzend Papierbögen. Ich möchte, dass du oder deine Eltern jeden Tag die Mizwot aufschreiben, die du geschafft hast. Am Ende wollen wir schauen, wie viele es geworden sind. Machst du mit?«

Klar will Tim mitmachen! Er nimmt die zwölf Bögen in die Hand und überlegt, was er alles machen könnte. Der Rabbinerassistent verabschiedet sich von Tim und läuft schnell in die Küche, wo Mutter schon auf ihn wartet. Tim rennt in den Hof und klopft bei der alten Frau Nagel. Sie ist sicher schon 230 Jahre. Sie schimpft immer, wenn er am Sonntag mit dem Fußball gegen ihre Hauswand schießt. Dann humpelt sie langsam heraus und beginnt zu kreischen: »Verdammt noch mal, es ist Sonntag, Gottes Ruh!« Tim lacht dann immer und verduftet.

Heute aber will er sie fragen, ob er vielleicht ihren Garten säubern darf. Er hat nämlich schon drei Fußbälle aus Versehen dorthin gekickt. Sie guckt ihn verdutzt an und öffnet die Gartentür. Schnell bückt sich Tim und holt seine drei Bälle zurück. Zu Hause schreibt er fleißig auf einen der Bögen: »Habe heute eine große Mizwa getan: drei Bälle befreit!«

schwanger Am nächsten Morgen sitzt er im Bus und denkt darüber nach, was er wohl heute tun kann. Tim will ins gute Buch, keine Frage. Er überlegt und überlegt und merkt erst kurz vor seiner Haltestelle, dass eine schwangere Frau neben ihm steht. »Wollen Sie sich setzen?«, fragt er. Strahlend nimmt sie sein Angebot an und lobt ihn. Tim lacht und springt aus dem Bus. Mizwot tun kann so befreiend sein.

Auch in der Schule ist Tim heute viel anständiger als sonst. Er lässt den schwächeren Banknachbarn Paul abschreiben. Und in der Mittagspause teilt er mit ihm das Brot, das seine Mutter ihm geschmiert hat. Dafür – und auch fürs Abschreiben – bekommt Tim eine Milchschnitte von ihm. Gegen Abend setzt er sich hin und schreibt: »Heute war ich lieb zu einer Schwangeren und zu Paul.« Am nächsten Tag ist die Schule geschlossen. Normalerweise ist Tim an solchen Tagen nicht zu Hause. Entweder spielt er mit Paul Online-Games oder sieht fern. Heute aber ist Tim rastlos.

albtraum Das Mizwa-Projekt hat ihn ziemlich angesteckt. Letzte Nacht hat er sogar geträumt, es wäre Rosch Haschana und Gott würde sich Tims Mizwot anschauen. Zwei kümmerliche Blätter lagen rechts von ihm. Das waren Tims gute Taten. Auf Gottes linker Seite türmten sich dicke Bücher bis zur Decke. Darin waren Tims schlechte Taten eingetragen. Tim wachte schweißgebadet auf.

Eine Unruhe packt ihn. Er rennt zu Vater ins Arbeitszimmer. »Papa«, ruft er hinein, »was ist dein Lieblingsgetränk?« – »Bier.« – »Ich hol dir eins!« Er eilt in die Küche und schnappt sich ein Dunkles. »Da, Papa, bitte trink!« – »Aber Tim, es ist neun Uhr morgens, und außerdem ist das Bier lauwarm. Das mag ich nicht.« – »Bitte, es geht um das gute Buch. Ich will doch Vater und Mutter ehren. Bitte trink es aus und schreib meine Mizwa auf dieses Blatt hier.«

Widerwillig trinkt der Vater das warme Bier und bezeugt Tims gute Tat. Uff, noch mal Glück gehabt. Tim hat dann vor Rosch Haschana doch noch seine Mizwot erreicht. Herr Smokdunowski zeigte sich beeindruckt und versicherte Tim, dass dies reichen wird fürs gute Buch. Jetzt kann Rosch Haschana beginnen!

Justiz

Gericht: Melanie Müller zeigte mehrmals den Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was im Berufungsverfahren zur Debatte steht

von André Jahnke  14.12.2025

Feiertage

Weihnachten mit von Juden geschriebenen Liedern

Auch Juden tragen zu christlichen Feiertagstraditionen bei: Sie schreiben und singen Weihnachtslieder

von Imanuel Marcus  14.12.2025

Nachruf

Trauer um Hollywood-Legende Arthur Cohn

Arthur Cohn war immer auf der Suche nach künstlerischer Perfektion. Der Schweizer Filmproduzent gehörte zu den erfolgreichsten der Welt, wie seine Oscar-Ausbeute zeigt

von Christiane Oelrich  12.12.2025

Computerspiel

Lenny Kravitz wird James-Bond-Bösewicht

Als fieser Schurke will der Musiker im kommenden Jahr dem Agenten 007 das Leben schwer machen – allerdings nicht auf der Kinoleinwand

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025

Aufgegabelt

Latkes aus Dillgürkchen

Rezepte und Leckeres

 12.12.2025

Kulturkolumne

Lieber Chanukka als Weihnachtsstress?

Warum Juden es auch nicht besser haben – was sich spätestens an Pessach zeigen wird

von Maria Ossowski  12.12.2025

Kommerz

Geld oder Schokolade?

Der Brauch, an den Feiertagen um Münzen zu spielen, hat wenig mit den Makkabäern oder dem traditionellen Chanukkagelt zu tun. Der Ursprung liegt woanders

von Ayala Goldmann  12.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Singend durch Paris oder Warum unser Chanukka-Song der beste ist

von Nicole Dreyfus  12.12.2025