Songwriter

Kein falscher Prophet

Mit 79 Jahren, da fängt das Leben an: Bob Dylan veröffentlicht nach fast einem Jahrzehnt wieder eigene Songs. Foto: dpa

Es mag nicht sonderlich originell sein, einem 79-jährigen Künstler zu attestieren, sein neues Werk sei wohl sein Alterswerk. Aber es ist ja Bob Dylan, der doch überwiegend als Rockmusiker wahrgenommen wird, und dann gewinnt der erste Satz dieses Textes vielleicht doch etwas an Originalität.

Während etwa die Rolling Stones mit den immer gleichen Songs unterhalten, zitiert Dylan sie einfach: In »I Contain Multitudes« heißt es: »I’m just like Anne Frank, like Indiana Jones / And them British bad boys, The Rolling Stones«. Der Song ist eine große, kaum bis gar nicht dechiffrierbare Flut an Namen, Szenen, Begriffen, Anspielungen.

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Warum Anne Frank, wurde Dylan jüngst in der »New York Times« gefragt, warum das jüdische Mädchen, das in der Schoa ermordet wurde, so nah bei Indiana Jones, dem fiktiven Abenteurer? »Ihre Lebensgeschichte bedeutet viel. Sie geht sehr tief«, antwortet Dylan und beschwert sich beim Interviewer: »Sie reißen Annes Namen aus dem Zusammenhang, dabei ist sie Teil einer Trilogie. Sie könnten genauso gut fragen: ›Warum haben Sie sich entschieden, Indiana Jones oder die Rolling Stones aufzunehmen?‹«

Es ist eine Hommage an die Americana, die 200-jährige Kultur des Landes.


Nun weiß man zwar immer noch nicht, warum Dylans lyrisches Ich sich ausgerechnet wie Anne Frank fühlt, aber man ahnt, dass der jüdische Sänger auch deren Vermächtnis in seinem Werk erblickt.

Mit Anne Frank und den vielen anderen genannten Personen kommt man dem Verständnis von Dylans neuer CD ein großes Stück näher. Rough and Rowdy Ways heißt sie, besteht in weiten Teilen aus Bluesstücken, in erzählerischem Ton vorgetragen. Vor allem ist es eine Hommage an die Americana, an die große Kultur, die die USA in den über 200 Jahren ihrer Existenz hervorgebracht haben. Schon der CD-Titel ist eine Reminiszenz an den Countrysänger Jimmie Rodgers, der 1933 im Alter von nur 36 Jahren gestorben ist.

KENNEDY Am deutlichsten wird Dylans Abarbeiten an amerikanischer Geschichte im fast 17-minütigen »Murder Most Foul«: Hier wirft Dylan mit Namen, Titeln, Bezügen und Anspielungen nur so um sich. Die entstammen zwar nicht nur amerikanischer Geschichte (Beatles, Shakespeare), aber auch sie haben die amerikanische Kultur geprägt, und vor allem halfen sie, aus Bob Dylan diesen unglaublich inspirierenden Künstler zu machen: die bei einem Flugzeugabsturz umgekommene Countrysängerin Patsy Cline, die Sängerin Etta James, die Festivals von Woodstock und Altamont, John Lee Hooker, Don Henley, Oscar Peterson, Charlie Parker. Man kann sie nicht alle aufzählen. Einmal heißt es: »Play it for me and for Marilyn Monroe«, und auch der jüdische Verbrecherkönig Bugsy Siegel erhält seine Erwähnung.

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Bob Dylan selbst ist, natürlich, Teil der Americana. Er hat den Folk modernisiert, er hat ihn literarisch veredelt, er hat den Folkrock begründet. Das sind Meriten genug, dafür brauchte es gar nicht den Literaturnobelpreis, den er 2016 erhielt. Aber Dylan ist auch schon lange der Archivar der musikalischen Americana, er bewahrt die großartige Tradition von Country- und Folk-, von Blues- und früher Rockmusik auf, präsentierte drei Jahre lang in einer Radiosendung Stücke, die er über die Jahrzehnte gesammelt hatte und die ohne ihn vielleicht vergessen würden.

Der Songtitel »Murder Most Foul« ist übrigens ein Zitat aus Shakespeares Hamlet, und im Song werden noch Richard III., Julius Caesar und Macbeth verarbeitet. »Murder Most Foul« handelt vom Mord an John F. Kennedy 1963, was so ganz nebenbei auch auf einen sehr unrühmlichen Moment in Dylans Vita verweist: Als das damals 22-jähriges Talent kurz nach dem Mord in Dallas den angesehenen »Tom Paine Award« der Bürgerrechtsbewegung National Emergency Civil Liberties Committee erhielt, trat er stockbesoffen ans Mikrofon und lallte, er habe in Lee Oswald, dem mutmaßlichen Mörder, »auch einiges von mir gesehen«. Man kann das lange und intensive Stück auch als eine Abbitte für Dylans damaliges Fehlverhalten interpretieren. Hier räumt jemand bei sich auf.

TRADITION Womit man wieder bei der These vom Alterswerk ist. Im Song »Mother of Muses« raunt er mit seiner tiefen, krächzenden und genuschelten Stimme: »I’ve already outlived my life by far«. An einer Stelle von »False Prophet« heißt es: »I’m first among equals / Second to none / Last of the best / You can bury the rest«. In »Key West (Philosopher Pirate)« besingt er einen alten Desperado, der nach Florida reist und dort eine Radiostation bittet, den Song »Rescue Me« zu spielen. Und »I’ve Made Up My Mind To Give Myself To You« klingt wie die Nachspannmusik eines melancholischen Westerns.

In diesem Alterswerk reflektiert Dylan sein gesamtes musikalisches Schaffen.

Rough and Rowdy Ways ist tatsächlich ein Alterswerk geworden. Es reflektiert Dylans 60-jähriges musikalisches Schaffen, es greift die große Tradition der Protestsongs auf, für die der junge Dylan auch einmal stand. Es verarbeitet die apokalyptischen, biblisch inspirierten Themen Dylans. Es bringt uns neue traurig-sentimentale Liebeslieder. Und Dylan gelingt es, dem allen seinen legitimen Platz in der amerikanischen Kultur zuzuordnen, deren Teil er ist, von der er aber weiß, dass sie ihn mit so unglaublich vielen Facetten geprägt hat. Mit Dylan (in »False Prophet«) gesagt: »I ain’t no false prophet / I just know what I know / I go where only the lonely can go«.

Bob Dylan: »Rough and Rowdy Ways«. Sony Music (2020)

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