Trauer

Judith Kerr ist tot

Judith Kerr (1923–2019) Foto: dpa

Wie erklärt man einem Kind den nationalsozialistischen Terror, wie macht man Antisemitismus, Verfolgung und Flucht begreifbar? Judith Kerr schaffte es: Als junge Mutter schrieb sie für ihre Kinder auf, wie sie als Neunjährige mit ihrer jüdischen Familie 1933 aus Berlin geflüchtet war. Ihr Vater Alfred Kerr war in der Weimarer Republik ein gefeierter Kritiker. Die Nazis verbrannten seine Bücher.

Judith Kerrs Kinder- und Jugendbuch Als Hitler das rosa Kaninchen stahl (1971) wurde zum preisgekrönten Bestseller und zur Pflichtlektüre in deutschen Schulen. Am Mittwoch ist Judith Kerr im Alter von 95 Jahren nach kurzer Krankheit gestorben, wie ihr britischer Verlag Harper Collins am Donnerstag mitteilte.

Verlagschef Charlie Redmayne würdigte sie als »wunderbaren und inspirierenden Menschen«: »Sie war eine brillante Künstlerin und Geschichtenerzählerin, die uns ein außergewöhnliches Werk hinterlassen hat.«

Judith Kerrs Kinder- und Jugendbuch »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl« (1971) wurde zum preisgekrönten Bestseller und zur Pflichtlektüre in deutschen Schulen.

flucht Dass aus der Flucht aus Nazi-Deutschland keine traumatische Erfahrung wurde, führte Judith Kerr vor allem auf die Lebenseinstellung ihrer Eltern zurück: »Meine Mutter war so positiv, dass wir das eigentlich als ein Abenteuer sahen. Es war schreckliche Not – aber wir haben das damals noch nicht bemerkt«, sagte sie vor einigen Jahren der Deutschen Presse-Agentur. Für viele jugendliche Leser war ihr halb-autobiografischer Roman um das Mädchen Anna die erste Begegnung mit dem Alltag und den Schrecken unter den Nationalsozialisten.

1936 ließ sich die Familie in London nieder. Kerr absolvierte dort die Kunsthochschule. »Ich kann mich nicht an eine Zeit erinnern, als ich nicht zeichnen wollte«, verriet sie. »Es schien normal zu sein, meine Zeit damit zu verbringen, genauso wie es für meinen Bruder Michael normal war, einen Ball herumzukicken.«

Nach dem Krieg war sie als Redakteurin für den Sender BBC tätig, wo sie ihren Mann, den britischen Fernsehautor Nigel Kneale, kennenlernte. Sie waren bis zu seinem Tod im Jahr 2006 über ein halbes Jahrhundert lang miteinander verheiratet.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

durchbruch 1968 schaffte sie den Durchbruch in Großbritannien mit ihrem Erstlingswerk Der Tiger kommt zum Tee. Es entstand aus Gutenachtgeschichten für ihre Tochter Tacy, über einen lächelnden Tiger mit menschlichen Augen und viel Appetit. Ein millionenfacher Bestseller.

Dann verewigte sie ihr exzentrisches Haustier als Mog, der vergessliche Kater. »Mog miaute fast nie, sondern schnitt stattdessen wunderbar ausdrucksvolle Grimassen«, erinnerte sie sich im »Telegraph«. Mehr als ein Dutzend weitere Bücher über seine Abenteuer folgten. Ihre farbenfreudigen Zeichnungen regten die Fantasie von Generationen an, und ihr witziges, britisches Understatement in der Wortwahl verführte zum Lesen. Sie war bekannt für ihre Bescheidenheit, obwohl sie Millionen Bücher weltweit verkaufte, mit Übersetzungen in viele Sprachen.

»Seit mein Mann gestorben ist, ist das Einzige, was mir mit dem Alleinsein hilft, dass ich 24 Stunden am Tag arbeiten kann, wenn ich will«, bekannte sie 2018 in einem Interview. »Wenn ich nicht zeichnen kann, werde ich ziemlich gereizt und traurig.«

Trotz Leichtigkeit und Humor war Düsternis stets präsent in ihren Büchern – und verlor dadurch an Schrecken.

inspiration Bis zuletzt schrieb und illustrierte sie. Eine Hüftoperation hielt die über 90-Jährige nur wenige Wochen von ihrem täglichen Spaziergang durchs grüne Barnes im Südwesten Londons ab. Das war ihre regelmäßige Quelle der Inspiration – danach malte sie in ihrem Arbeitszimmer unterm Dach mit gespitzten Buntstiften und Blick auf alte Bäume weiter.

2016 erschien auf Deutsch Ein Seehund für Herrn Albert in Erinnerung an ihren Vater, der ein verlassenes Robbenbaby aufzog, das er am Strand gefunden hatte. Natürlich entwickelt sich daraus ein charmantes, leicht chaotisches Abenteuer. 2018 kam Meine Katze Katinka heraus.

Trotz Leichtigkeit und Humor war Düsternis stets präsent in ihren Büchern – und verlor dadurch an Schrecken. Im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen sagte sie im Jahr 2011 über die letzten Worte ihres Vaters an sie: »Er hat mir und meinem Bruder immer wieder befohlen, das Leben anzunehmen. Du musst glücklich sein, schrieb er auch in einem seiner letzten Briefe.«

2002 schockte sie ihre jungen und alten Fans, als sie ihren berühmten Kater sterben ließ, um Kindern sanft beizubringen, mit Verlust umzugehen. Selbst Prinz Philip trauerte. In einem Interview der Tageszeitung »Mirror« erklärte Kerr: »Als ich es schrieb, waren mein Mann und ich um die 80 Jahre alt, und ich dachte an die, die wir verlassen würden. Ich wollte so etwas sagen wie: ›Erinnert euch an mich, aber lebt euer Leben weiter.‹«

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

7. Oktober

Schwerer Abend mit Friedman und Habeck

Ein »harter« Moderator und ein zerknirschter Politiker diskutieren über Antisemitismus

von Ayala Goldmann  09.10.2024 Aktualisiert

Interview

»Lasst uns zusammenkommen und reden«

Babak Shafian über Solidarität, Krieg, Juden im Iran und erfolgreiche Tourneen

von Christine Schmitt  08.10.2024

Buch

Ein fiktiver Dialog über Glaube und Versöhnung

Bischof Wilmer begegnet der ermordeten Jüdin Etty Hillesum

von Michael Althaus  08.10.2024

Berlin

Vier israelische Musiker werden mit Opus-Klassik-Preis geehrt

Auszeichnungen für Avi Avital, Shirley Brill, Jonathan Aner und Efrat Alony

von Christine Schmitt  08.10.2024

Meinung

Sie tanzen weiter

Seit dem 7. Oktober hat die globale elektronische Musikszene versagt – aber die Überlebenden des Nova-Festivals geben nicht auf

von Nicholas Potter  07.10.2024

7. Oktober

Der längste und furchtbarste Tag

Marko Martin fragt in seinem neuen Buch, wie Israelis mit den Massakern umgehen. Ein Vorabdruck

von Marko Martin  06.10.2024

Analyse

Die neuen alten Grenzen der Solidarität

Erstaunt über den aktuellen Judenhass? Lesen Sie doch mal Jean Amérys 60 Jahre alte Texte

von Leeor Engländer  06.10.2024

Barrie Kosky

Die Deutschen unterschätzen das Lachen

In einem Interview blickt der Regisseur auf seine Arbeit und den Rollentausch nach der Aufführung

 06.10.2024

Thriller

Cohen und die Mafia

»Maror« von Lavie Tidhar dreht sich um einen korrupten Polizisten in Tel Aviv

von Katrin Diehl  06.10.2024