Medien

Inszenierte Opfer

Gut gemacht», sagte der Mann vom Roten Halbmond, «gut gemacht.» Der kleine Muhammed Tamimi hatte nicht etwa tapfer eine Spritze überstanden, sondern sich gerade als Fotomotiv bewährt. Der Sanitäter zeigte dem zwölfjährigen Palästinenserjungen kurz die Pressefotos, die er jetzt noch rasch an die Medien durchreichen wollte.

Das gehört zwar nicht zu seiner vornehmlichen Aufgabe als Sanitäter, aber besondere Zeiten erfordern eben besondere Maßnahmen, wird er sich gedacht und den Erste-Hilfe-Koffer erst einmal beiseitegestellt haben. Es hat sich gelohnt: Eines dieser Bilder landete nämlich auf dem Tisch eines Bildredakteurs des «Stern». Und der war so beeindruckt, dass er es sofort für die doppelseitige Rubrik «Bilder der Woche» auswählte. Es passte offenbar wie maßgeschneidert in sein Bild von Israel, dem Schurkenstaat, der nicht davor zurückschreckt, auch ein unschuldiges Kind wie Muhammed Tamimi zu quälen.

Der kleine Junge im Würgegriff eines gesichtslosen Soldaten, ein schwarzes Maschinengewehr an seiner Wange, das Gesicht schmerz- und angstverzerrt. Das «Bild der Woche» ist schwer zu ertragen. Nun werden bekanntlich weltweit und tagtäglich Abertausende Kinder geschunden, gequält, getötet und missbraucht, aber ihr Leid kommt besonders gern ins Rampenlicht, wenn Israel mit im Spiel ist. Dann kennt die Empörung keine Grenzen, und das Setting für eine Anklage gegen den Judenstaat ist perfekt. Bis ins Detail: Der linke Arm des geschundenen Muhammed liegt in Gips. Sein Elend lässt niemanden kalt, der ein Herz im Leib hat und keinen Stein.

arrangiert Sein Schmerz geht um die Welt, auch in Israel löst das Bild helles Entsetzen aus. Allein auf Facebook wird es fast dreimillionenfach geklickt. Aber es existiert nicht nur dieses eine Bild. Die gesamte Szene ist gefilmt und zigfach fotografiert worden. Der Bildredakteur beim «Stern» hatte also die freie Wahl, aber er hat genau dieses Bild ausgesucht, weil es ihm so wunderbar in den Kram passte. Er wollte nicht sehen, dass das Ganze ein perfekt arrangiertes Event für Kameras, Bildreporter und andere interessierte Medienmacher gewesen war. Ihn hat nicht interessiert, was die wahre Geschichte des kleinen Muhammed ist: die eines propagandistisch missbrauchten palästinensischen Kindes.

Regelmäßig freitags begibt sich nämlich ein kleines Dorf, das vornehmlich aus Mitgliedern der Großfamilie Tamimi besteht, auf seinen Kreuzzug. Von Nabi Saleh zur nahe gelegenen jüdischen Siedlung Halamish, die ihnen ein Dorn im Auge ist. Jeden Freitag werden sie durch israelische Soldaten, die die Siedlung schützen, an ihrem Protest gehindert. Seit gut sechs Jahren geht das nun so, auch wenn die inkriminierte Siedlung bald 40 Jahre existiert und anfangs auch in durchaus nachbarschaftlichem Einvernehmen. Bis es 2009 Zoff um einen Brunnen gab, den die jüdischen Siedler für sich reklamierten und der, lange verschüttet, erst durch deren Arbeit wieder Wasser sprudeln ließ.

westjordanland Man könnte sich einen Brunnen auch teilen, aber nicht im Westjordanland und nicht in der aufgeheizten Situation. Ende August rücken die Tamimis also wieder einmal gegen ihre verhassten Nachbarn aus. Sie haben Gasmasken, eine palästinensische Flagge und viele Medienleute dabei. Und den kleinen Muhammed. Steine werden geworfen. Beobachter wollen auch Muhammed dabei gesehen haben. Ein Soldat schnappt sich den Burschen, der aber wehrt sich, trotz seines Gipsarms, heftig. Es kommt zu einem Gerangel. Die Familie zerrt an dem Soldaten, sie schreien und verprügeln ihn mit bloßen Fäusten. Muhammeds Schwester beißt dem Soldaten entschlossen in die Hand.

Der Soldat wirkt grotesk hilflos, kann sich aber, obwohl schwer bewaffnet, nicht wehren. Anders, als das Bild unterstellt, verhält er sich so, wie alle darauf vertrauen, dass sich ein israelischer Soldat verhält. Er gibt keinen Schuss ab, nicht einmal einen zur Warnung. Man mag sich nicht vorstellen, wie eine vergleichbare Situation in einem anderen Konfliktherd der Region, in Libyen, Ägypten oder Syrien etwa, ausgegangen wäre. Erst sein zu Hilfe eilender Kommandeur kann ihn aus der misslichen Lage befreien. Aber da war der Zweck des ganzen Unternehmens längst erfüllt: gute Bilder.

«Wir haben sie», ruft erfreut der Mann vom Roten Halbmond. Und sie waren besonders gut. Das gelingt nicht jede Woche, auch wenn der Protest ein gut eingespieltes Ritual ist und die Familie mit «Tamimi Press» so etwas wie eine eigene Agentur betreibt. Die Medienvertreter kennen und begrüßen sich, «wie Mitglieder einer Fußballmannschaft, bevor sie das Feld betreten», berichtet ein Reporter der «Times of Israel», der die Show zum ersten Mal miterlebte. Andere Medien wie der «Telegraph» oder «Daily Mail» klären ihre Kundschaft auf über die Falle, in die sie getappt sind. Nicht aber der «Stern». Auf den Protest der israelischen Botschaft antwortet die Redaktion lapidar: Alles halb so wild. Man habe schließlich auf die Ambivalenz hingewiesen, auf die Macht der Bilder. Aber genau diese Macht setzte die Redaktion ein.

Hype Bilder leidender Kinder sind die besten Waffen in einem Krieg, der militärisch nicht zu gewinnen ist, sie entscheiden den Krieg in den Köpfen. Jeder erinnert sich an Mohammed al-Dura, der im September 2000 vor laufender Kamera von israelischen Soldaten erschossen wurde, wie es weltweit, aber voreilig hieß. Auch wenn mittlerweile sicher ist, dass Mohammed durch palästinensische Heckenschützen unter Beschuss geraten war, sind die Umstände dieses Medienhypes mehr als zweifelhaft: Ist die Szene eine Inszenierung, ist Mohammed al-Dura wirklich erschossen worden, oder lebt er vielleicht noch, was ihm zutiefst zu wünschen wäre? Bis heute ist der französische Fernsehsender France 2, der die Bilder in die Welt sendete, nicht bereit einzuräumen, einer Inszenierung aufgesessen zu sein.

Nun ist Muhammed Tamimi ein kleiner Kinderstar. Weltberühmt wie seine beißfreudige Schwester übrigens, die vor drei Jahren bereits einen türkischen Tapferkeitspokal erhielt, weil sie die Verhaftung eines anderen Bruders verhindert hatte. Oder der gemeinsame Vater, Bassem Tamimi, der mehrfach in israelischen Gefängnissen saß, weil er seine Kinder nicht schützte, sondern sie immer wieder an die Front gegen die verhasste Besatzungsmacht geschickt hat.

Zwei Mitglieder des Clans haben bei solchen Aktionen schon den Tod gefunden, der eine angeblich durch ein Gummigeschoss, der andere durch einen Tränengasbehälter, der von einem Armeejeep gefallen war. Der Vater des kleinen Muhammed wusste also, was auf dem Spiel stand, als er seinen Sohn als politischen Kindersoldaten losschickte. Die ehemalige EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton nannte den skrupellosen Vater und ehemaligen Lehrer dennoch einen «Verteidiger der Menschenrechte». Die gelten für Kinder aber offenbar weniger.

Der Autor ist Journalist in Frankfurt. Von ihm erschien zuletzt: «Israel ist an allem schuld» (zusammen mit Esther Schapira).

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