Geschichte

Im Auge des Hurrikans

Britische Marinesoldaten marschieren 1942 mit jüdischen Freiwilligen auf der »Jewish Soldiers’ Day Parade« durch Tel Aviv. Foto: picture alliance / AP Images

Der Schmetterlingseffekt aus der Chaostheorie lässt grüßen. Dieser besagt, dass der Flügelschlag eines solchen Insekts in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann. So steht er für Phänomene, die globale Folgen haben können und oftmals nicht wirklich vorhersehbar sind, weil die Zusammenhänge einfach zu komplex erscheinen.

Und genau an diese Metapher muss man bei der Lektüre des neuen Buchs von Dan Diner fast unweigerlich denken. Der Historiker erzählt darin »die Anatomie des Zweiten Weltkrieges«, und das aus einer äußerst ungewohnten Perspektive. Denn er verlässt die ausgetretenen Pfade einer rein chronologischen Schilderung der Ereignisse, die mitunter eine starre Fixierung auf den Zeitraum zwischen 1939 und 1945 mit sich bringt. Als Eckpfeiler kristallisieren sich bei ihm eher die Jahre 1935 und 1942 heraus, jene Phase, die mit dem Einmarsch des faschistischen Italien in Äthiopien ihren Anfang nimmt und mit der Niederlage der deutschen Truppen in Nordafrika endet. Dafür gibt es gute Gründe.

London Aber fast noch wichtiger sind die geografischen Räume, die dabei immer wieder aus verschiedenen Gründen in den Mittelpunkt rücken. Da ist vor allem der britische Herrschaftsbereich in Asien zu nennen. Zahlreiche wichtige außenpolitische Entscheidungen, die damals in London gefällt wurden und sowohl den europäischen Kontinent als auch den Nahen Osten betrafen, drehten sich primär um die Sicherung Indiens, das Herzstück des Empires. Und obwohl auf den ersten Blick nur an der Peripherie gelegen, spielt Palästina dabei eine stetig wachsende Rolle.

So beginnt Der andere Krieg mit dem Jahr 1942 und der Konferenz im New Yorker Biltmore-Hotel, wo sich das Who’s who der zionistischen Bewegung versammelt hatte, um die Optionen für ein unabhängiges und jüdisches Palästina in der Nachkriegszeit auszuloten. Zugleich markiert die Zusammenkunft bereits einen Paradigmenwechsel, weil man auf zionistischer Seite seine Zukunft fortan eher an der Seite der Vereinigten Staaten sah und Großbritannien als eine Weltmacht im Abstiegskampf zu betrachten begann.

Vor dieser ersten Folie gewinnt ein anderes Land an Signifikanz, das in diesem Kontext wohl kaum jemand auf dem Radar haben dürfte: Irland und dessen erfolgreicher Kampf um seine Unabhängigkeit. »In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der irische Mythos Ansporn und Vorbild für die weltweit sich regenden antikolonialen, antibritischen Erhebungen«, bringt Diner es auf den Punkt. So wies auf der Biltmore-Konferenz unter anderem Rabbi Abba Hillel Silver in seiner mehrfach von Applaus unterbrochenen Rede auf die Wahlverwandtschaft zwischen Iren und Juden hin, indem er an deren Emanzipationsgeschichte im 19. Jahrhundert erinnerte.

Rabbi Abba Hillel Silver betonte die Wahlverwandtschaft zwischen Iren und Juden.

Szenenwechsel nach Indien. In ihrem Kampf um ihre Unabhängigkeit von Großbritannien blickten die indischen Akteure ebenfalls Richtung Irland. Zugleich aber waren sie mit einem britischen Verwaltungs- und Militärapparat konfrontiert, dessen Personal wiederum zumeist irischer Herkunft war, darunter der für seine Brutalität berüchtigte Polizeioffizier Charles Tegart, der 1938 nach Palästina beordert wurde, wo er die nach ihm benannten Tegart-Forts zur Befriedigung des vom Aufstand geplagten Mandatsgebiets entwarf. »Bengalen und Palästina waren einander nicht allein aufgrund der Übertragung polizeitaktischer Praktiken britisch-imperialer Herrschaft – wie in der Person Charles Tegarts verkörpert – nahegekommen«, schreibt Diner. »Auch aus antikolonialer Perspektive verschränkten sich die bengalisch-indischen Zustände mit denen Palästinas.«

ACHSENMÄCHTE Konkret gemeint ist die Opposition der Muslime auf dem Subkontinent gegen die ihrer Meinung nach die Juden bevorzugende Politik der Briten in Palästina. Und dann kommen da noch die Achsenmächte ins Spiel, die das »britische Binnenmeer« quasi in die Zange nehmen: Italiens Ambitionen im östlichen Afrika einerseits und die Japaner andererseits, die Singapur erobern und westwärts drängen. Last but not least auch die Deutschen, die vom Kaukasus aus Indien bedrohen und ihrem schwächelnden Bündnispartner in Nordafrika beistehen müssen. Dabei kommen sie dem Jischuw in Palästina gefährlich nahe, was dort zu Überlegungen führte, wie man als Juden der Wehrmacht trotzen könnte. Mehrfach bombardieren Deutsche und Italiener Tel Aviv oder Haifa, das aufgrund der aus dem Irak kommenden Pipeline sowie einer Raffinerie von den Deutschen die Bezeichnung »die Tankstelle« am Mittelmeer erhalten hatte.

Dass die Vernichtung des Jischuws dank des Sieges der Briten in El Alamein verhindert werden konnte, war keine Selbstverständlichkeit. All das hatte viel mit dem Abschneiden der Deutschen von der Treibstoffversorgung zu tun, dem Aufbau einer Lebensader der Alliierten durch den Iran, über die der Nachschub an die Rote Armee lief, sowie weiteren Faktoren.

Was anfangs wie ein ungeordnetes und assoziatives Springen von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit erscheint, verdichtet sich im Laufe des Buches zu einem schlüssigen Bild, das es in dieser opulent zu nennenden Form in der Historiografie über den Zweiten Weltkrieg wohl noch nicht gab. »Vor diesem Hintergrund des Gesamtgeschehens nimmt die Errettung des Yishuvs sich in der Tat wie Zufall aus«, lautet denn auch Diners Fazit. Doch trotz aller Erleichterung und Freude über den Ausgang – auch diese Erkenntnis konnte nicht folgenlos bleiben, was sich wiederum darin zeigte, dass sich über die Erinnerung an El Alamein »eine Schicht des Vergessens« gelegt hatte.

Dan Diner: »Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935–1942«. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021, 346 S., 34 €

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