Israel

»Ich glaube, wir gehen im September wieder wählen«

Doron Kiesel im Gespräch mit Natan Sznaider Foto: screenshot

»Natürlich ist das Land gespalten«, stellt Natan Sznaider schon zu Beginn klar. Der Professor für Soziologie an der Akademischen Hochschule von Tel Aviv traf sich am Donnerstag zu einem einstündigen Online-Gespräch mit Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Deutschland. Die Ergebnisse der jüngsten Knesset-Wahlen in Israel waren das Thema.

Die zahlreichen Parteien, die in der 24. Knesset vertreten sein werden, sind aus Sznaiders Sicht »ein sehr guter Spiegel für das, was hier im Land vorgeht«. Sie demonstrierten die Diversität und Pluralität der israelischen Gesellschaft.

IDENTITÄT Die politischen Kräfteverhältnisse ließen sich mit dem europäischen Links-Rechts-Schema nicht erklären, betont Sznaider. »Hier geht es um israelische Identitätspolitik.« Jedes Milieu kämpfe um seine Idee, wie die israelische Identität aussehen soll.

Das israelische Grundproblem sei, so Sznaider, »dass man einen gemeinsamen Raum mit so viel Verschiedenheit teilen muss«. Israel sei eines der heterogensten Länder auf kleinem Raum, das man sich vorstellen könne. Sznaider sieht Israel als eine »postmoderne Stammesgesellschaft«. Eine abgrundtiefe gegenseitige Abneigung der unterschiedlichen Milieus halte das Land zusammen.

IMPROVISATION Identitäre Spaltungen führen laut Sznaider dazu, dass Israel es nicht schafft, stabile Regierungen zu bilden. Das Land müsse daher improvisieren und sich laufend neu erfinden. Diese Fähigkeit hat, vermutet er, Israel einen Vorteil im Kampf gegen die Corona-Pandemie verschafft: »Das war möglich, weil man hier mobil denken kann und muss, weil man improvisiert.«

Die jüngste Knessetwahl hat für Sznaider eine weitere Entwicklung verdeutlicht: Israel habe immer weniger mit Europa zu tun. »Es ist ein nahöstliches Land.« Israel sei arabischer geworden. So gebe es inzwischen zwei arabische Parteien – unter ihnen auch eine rechte, homophobe Vereinigung. Die arabische Bevölkerung sei genauso divers wie die jüdische.

https://youtu.be/dIo8OdGHQ7c

Die arabischen Parteien könnten, so Sznaider, in den nächsten Wochen sehr wichtig werden, sollte es zu einer Regierungsbildung kommen. So könnte Benjamin Netanjahu für eine rechte Regierungskoalition von einer islamistischen, konservativen arabischen Partei abhängig sein. 

LIKUD Netanjahu sei, erkennt Sznaider an, die einzige feste Größe im israelischen Parteiengefüge. Ein Viertel der israelischen Wähler stimmte für ihn. Sie wählten letztlich nicht die Likud-Partei, nicht rechts oder links, nicht traditionell oder progressiv. »Sie wählen Benjamin und Sara Netanjahu«, betont Sznaider. Netanjahus Wähler identifizierten sich mit ihm. Sie lebten außerhalb von Tel Aviv. Die Wahl habe aber gezeigt, dass Netanjahu auch im vierten Anlauf keine wirklich rechte Regierung bilden könne, wie er es wolle.

LAPID »Er ist eine faszinierende Person«, sagt Sznaider über Yair Lapid, den Anführer der Zentrumspartei »Jesch Atid«, die zweitstärkste Kraft geworden ist. Lapid habe in Tel Aviv und den wohlhabenderen Gemeinden außerhalb der Metropole haushoch gewonnen.

Mit einer Prognose, wie eine Regierung gebildet werden könnte, tut sich Natan Sznaider schwer.

»Er wird mit einem zentristischen, aufgeklärten aschkenasischen Lebensstil identifiziert«, erläutert Sznaider. Viele High-Techer und Künstler würden ihn wählen. Lapid sehe sich aber nicht als Linker, sondern als Mitte Israels. Sznaider betont: »Es ist eine patriotische, eine zionistische Wahl.«

SHAS Die Schas-Partei, drittstärkste Kraft in der nächsten Knesset, werde laut Sznaider vor allem von Juden aus Marokko und Nordafrika gewählt. Schas sei orthodox, aber nicht ultraorthodox. Ihre Wähler definierten sich als religiöser als die Likud-Anhänger.

Politisch werde die Partei fast automatisch dem Likud-Block zugerechnet. In Tel Aviv sei die Schas-Partei fast nicht repräsentiert, dafür aber umso stärker in Jerusalem und den Entwicklungsstädten. »Die Schas-Partei ist das Gegenteil von Tel Aviv und Haifa«, fasst Sznaider zusammen.

WAHLEN Mit einer Prognose, wie eine Regierung gebildet werden könnte, tut sich Natan Sznaider schwer: »Was aus diesen Wahlen wird, kann ich nicht sagen.« Es könnte eine rechte Regierung kommen, die auf den Stimmen der Islamisten beruhe. Es könnte aber auch eine Regierung ohne Netanjahu gebildet werden.

Dann müssten aber sehr rechte Parteien mit Linksliberalen koalieren. Beide Optionen kann sich Sznaider nicht vorstellen. »Ich glaube, wir gehen im September wieder wählen«, resümiert er. »Wir mögen Wahlen so gern, alle paar Monate machen wir das«, sagt er augenzwinkernd.

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