Literatur

Gar nichts klar auf der Andrea Doria

Literatur

Gar nichts klar auf der Andrea Doria

Familie, Gefühlschaos, Brasilien und Stefan Zweig: Micha Lewinsky legt ein unterhaltsames Romandebüt vor

von Alexander Kluy  15.09.2024 10:59 Uhr

Zürich, Schweiz. Einst, vor 20 Jahren, war Ben Oppenheim ein vielversprechender Jungautor. Sein Werk Karies erhielt den Schweizer Buchpreis, wurde verfilmt, die Presse schrieb kalauernd, Karies sei in aller Munde. Doch seither ist ihm nichts mehr gelungen. Auch als Drehbuchautor war er wenig erfolgreich. Exposés und Ideen wurden und werden abgelehnt. Zudem ist seine Familie am Auseinanderbrechen.

Nach der Trennung von seiner Ehefrau, der Physiotherapeutin Marina, die keine fundamentale Trennung ist, einmal wegen der Kinder, der vorwitzig-altklugen Teenagerin Rosa und dem siebenjährigen Moritz, zweitens, weil er sich keine eigene Wohnung in der teuren Stadt an der Limmat leisten kann, weshalb er immer noch die Hälfte der Woche anwesend ist, setzt er sich an ein Drehbuch über Stefan Zweig. Der Wiener Autor und heute noch viel gelesene Humanist floh 1934 aus Salzburg und setzte 1942 in Petrópolis in Brasilien in tiefer Verzweiflung über die Zeit- und Weltenläufe seinem Leben ein Ende.

Außerdem hat Ben in der Künstlerin Julia eine neue Freundin gefunden, zu seiner größten Überraschung. Doch mit der bricht er auch, denn: Wie von Marina und ihm lang erwartet, ist in Krasny, Russland, ein Munitionslager explodiert! Es ist Krieg! Somit greift der Notfallplan: Flucht nach Brasilien! Nur dort ist es noch sicher vor der vermeintlichen atomaren Eskalation.

Die Casa Zweig, das letzte Wohnhaus und heute Museum, ist eine Enttäuschung

Sie fliegen Hals über Kopf ab, landen in Recife, wollen sich überlegen, wo sie sich endgültig niederlassen, und müssen realisieren, dass sie die Einzigen sind, die einen Plan haben. Allerdings sind sie auch die Einzigen, die aus Europa fliehen. Am Ende, so viel sei verraten, brechen sie ihre Zelte wieder ab. Davor hat Ben noch die Casa Zweig, das letzte Wohnhaus und heute Museum, aufgesucht – eine Enttäuschung.

Wieder muss gesagt werden: Wenn geistreiche Unterhaltung aus der Schweiz kommt, dann nur von Juden. Ein anderer, Thomas Meyer, ist auch bei Diogenes unter Vertrag. Dieses Züricher Haus hat nun Sobald wir angekommen sind verlegt, und das nicht nur, weil Micha Lewinskys Vater Charles dort Stamm- und Erfolgsautor ist, auch nicht, weil Diogenes schon vor zwei Jahren Micha Lewinskys Kinderbuch Holly im Himmel druckte.

Der Grund vielmehr ist: Dieses Debüt ist überaus gelungen. Vor allem in der zweiten Hälfte, mit dem Eintreffen in Brasilien, realisiert man, dass der 1971 geborene Lewinsky seit mehr als 20 Jahren Drehbücher schreibt und Filmregisseur ist, zuletzt von Moskau Einfach!, einem Streifen, der, obwohl ausgezeichnet mit dem Schweizer Filmpreis in der Kategorie Beste Darstellerin, außerhalb der deutschsprachigen Schweiz einen eher schweren Stand hatte. Denn gedreht wurde in Schwyzerdütsch.

Ben ist eine atmende Komfortzone

Mit Ben Oppenheim ist Lewinsky ein feinsinnig gezeichneter urkomischer Charakter gelungen. Zutiefst unsicher ist er, in der Regel Aussagen, erst recht Verhalten falsch deutend, von einem verzweifelten Fettnapf zum nächsten tappend, oft überfordert, kurz: ein moderner Mann. Ben ist eine atmende Komfortzone. Allen will er es recht machen, sich mit niemandem anlegen.

Sein Verhalten erklärt er sich selbst mit seinen Wurzeln: Wer als Jude vor Pogromen floh, der überlebte und pflanzte sich fort, wer hingegen sich wehrte, der kam um. Also lautet seine Devise: ausweichen, wann immer möglich! Wenn er sich tatsächlich einmal aufrafft, »heroisch« einem anderen Menschen zu widerstehen, ja zu kämpfen, wie im Finale um seinen Lieblingssessel im Hotel, dann erscheint der Sieg, den er am Ende des Händels wider diesen großen, blonden, viel kräftigeren Deutschen seinen Kindern verkündet, diesen jedoch als haarsträubende Niederlage.

Kein Wunder, dass dieser unterhaltsame, leicht-satirische, oft witzige Roman im Hochsommer erschienen ist. Er bietet sich für eine gnadenlos lustige Verfilmung geradezu an. Dani Levy, übernehmen Sie!

Micha Lewinsky: »Sobald wir angekommen sind«. Diogenes, Zürich 2024, 288 S., 25 €

USA

Trauer um Filmmusiker Mark Snow

Der Komponist starb am Freitag im Alter von 78 Jahren

 05.07.2025

Andrea Kiewel

»Sollen die Israelis sich abschlachten lassen?«

Die »Fernsehgarten«-Moderatorin äußert sich im »Zeit«-Magazin erneut deutlich politisch zu ihrer Wahlheimat

 03.07.2025

Medien

»Ostküsten-Geldadel«: Kontroverse um Holger Friedrich

Der Verleger der »Berliner Zeitung« irritiert mit seiner Wortwahl in Bezug auf den jüdischen Weltbühne-Gründer-Enkel Nicholas Jacobsohn. Kritiker sehen darin einen antisemitischen Code

von Ralf Balke  03.07.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Katrin Richter  03.07.2025

Sehen!

»Hot Milk«

Die Mutter-Tochter-Geschichte unter der Regie von Rebecca Lenkie­wicz ist eine Adaption des Romans von Deborah Levy

von Anke Sterneborg  03.07.2025

Aufgegabelt

Iced Tahini Latte

Rezepte und Leckeres

 02.07.2025

Essay

Wenn der Wutanfall kommt

Kleine Kinder können herausfordern. Was macht das mit Eltern? Reflexionen einer Mutter

von Nicole Dreyfus  02.07.2025

Meinung

Die Erforschung von Antisemitismus braucht Haltung und Strukturen

Damit die universitäre Wissenschaft effektiv zur Bekämpfung von Judenhass beitragen kann, muss sie zum einen schonungslos selbstkritisch sein und zum anderen nachhaltiger finanziert werden

von Lennard Schmidt, Marc Seul, Salome Richter  02.07.2025

Nach Skandal-Konzert

Keine Bühne bieten: Bob-Vylan-Auftritt in Köln gestrichen

Die Punkband hatte beim Glastonbury-Festival israelischen Soldaten den Tod gewünscht

 02.07.2025