Väter

Familienaufstellung

Väter

Familienaufstellung

Dana von Suffrin erzählt in ihrem preisgekrönten Debütroman »Otto« mit bitterem Humor von einem alternden jüdischen Patriarchen

von Luisa Banki  16.10.2019 16:36 Uhr

Die jüdische Mamme ist eine in Literatur und Film bis zur Stereotypisierung bekannte Figur: Sie ist aufdringlich, distanzlos, betreibt emotionale Erpressung und kontrolliert das Leben ihrer Kinder noch im Erwachsenenalter – sie liebt mit einer Liebe, vor der es kein Entkommen gibt.

Dana von Suffrins Debütroman Otto bietet nun eine Variation und Aktualisierung dieser jüdischen Elternfigur: Ihr Buch ist einem Vater gewidmet, der nicht erst als Pflegefall von seinen Kindern absolute Hingabe verlangt und dessen Geschichte ein jüdisches Leben zwischen Rumänien, Israel und Deutschland im 20. und 21. Jahrhundert vor Augen führt.

Otto ist weder eine Biografie noch ein klassischer Familienroman im strengen Sinne, dafür mangelt es an Handlung, Breite, chronologischen und kausalen Zusammenhängen. Stattdessen – und das ist viel spannender – ist der Text eine Collage assoziativ miteinander verwobener anekdotischer Tableaus einer Familie, die auf ihre ganz eigene Weise unglücklich ist.

STARRSINN Otto, »Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter«, ist pensionierter Ingenieur, Geizhals und Pflegefall. Er liebt Discount-Supermärkte und sein geschichtsloses Reihenhaus im Münchner Vorort Trudering und tyrannisiert seine Töchter – die Ich-Erzählerin Timna und ihre Schwester Babi – mit seinem Starrsinn, seinen irrationalen Einfällen und manipulativen Forderungen.

Die Töchter kennen die Absurditäten, die das Leben mit ihrem Vater beinhaltet, und verstehen, dass er vor allem deswegen eine solche Heimsuchung ist, weil er ein Heim sucht, eine Familie, die ihm nicht wieder abhandenkommen soll. Otto wurde 1938 in Rumänen geboren, entkam der Vernichtung, lebte fast 20 Jahre lang in Israel, bevor er ausgerechnet in Deutschland landete, wo er gern wohnt und gern Regeln missachtet.

Es ist kein klassischer Familienroman im strengen Sinne.

Der Roman ist ein Buch des Eingedenkens. Er verwebt die Erinnerungen der Ich-Erzählerin mit denen ihres Vaters. So berichtet sie von den absurden, teils erbärmlichen Zuständen ihrer Kindheit, vom Scheitern der elterlichen Ehe, von den Besuchen bei den Großeltern in Israel und vom Verhältnis der Schwestern, die bei allen offensichtlichen Unterschieden doch nur gemeinsam gegen solche Eltern eine Chance hatten.

ERBE Zwar wird die nichtjüdische, alkoholkranke Mutter, die die Kinder schon vor Jahren beerdigt haben, mit einer fast zarten, liebevollen Erinnerung bedacht, doch der Roman handelt vom Vater, dessen Erbe die Tochter annimmt, auch wenn sie schwer daran trägt.

Otto will – so eine seiner »schönen Bitten«, deren Erfüllung er von der Tochter erpresst – die Familiengeschichte aufgeschrieben wissen. Weil er aber »wie alle Siebenbürger und alle Siebenbürger Juden alles immer romanciert«, fallen Chronologie, Kausalität und sogar Fakten den Erinnerungen des alten Vaters zum Opfer, und die Tochter muss »das Chaos ordnen«.

Die Lösung, die der Roman hierfür findet, ist literarisch überzeugend und auf der Höhe der literaturtheoretischen Überlegungen zur Darstellbarkeit von Erinnerungen und transgenerationellem Gedächtnis. Er findet in der steten Reflexion der Tochter über die Mechanismen der Erinnerungen eine ganz eigene Antwort darauf, wie eine Nachgeborene mit geerbter Geschichte umgehen kann.

TON Dana von Suffrin bringt mit ihrem Roman einen neuen Ton in die deutschsprachige jüdische Gegenwartsliteratur, der sonst vornehmlich aus amerikanisch-jüdischen Texten bekannt ist: Die Beschreibung einer wohlständigen und neurotischen Gegenwart ist von überlieferten Erinnerungen an ostjüdische Verfolgungs- und Migrationsgeschichten durchwirkt, der Humor ist gallig, und Judentum bedeutet vor allem die Pflege eines – neurotischen – Familienlebens, dem man weder entkommen kann noch will.

Mit klarem Blick auf die Unwägbarkeiten der Liebe zwischen dieser Tochter und ihrem Vater meistert der Roman den Balanceakt, den die Schilderung von Absurdität und Ambivalenz bedeutet: Es ist ein Buch »des Hasses und der Liebe«.

Dana von Suffrin: »Otto«. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 240 S., 20 €

TV-Tipp

Ein Skandal ist ein Skandal

Arte widmet den 56 Jahre alten Schock-Roman von Philip Roth eine neue Doku

von Friederike Ostermeyer  18.11.2025

Jubiläum

Weltliteratur aus dem Exil: Vor 125 Jahren wurde Anna Seghers geboren

Ihre Romane über den Nationalsozialismus machten Anna Seghers weltberühmt. In ihrer westdeutschen Heimat galt die Schriftstellerin aus Mainz jedoch lange Zeit fast als Unperson, denn nach 1945 hatte sie sich bewusst für den Osten entschieden

von Karsten Packeiser  18.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  18.11.2025

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  18.11.2025

Literatur

John Irvings »Königin Esther«: Mythos oder Mensch?

Eigentlich wollte er keine langen Romane mehr schreiben. Jetzt kehrt er zurück mit einem Werk über jüdische Identität und Antisemitismus

von Taylan Gökalp  18.11.2025

TV-Tipp

»Unser jüdischer James Bond«

Die Arte-Doku »Der Jahrhundert-Spion« erzählt die schillernde Lebensgeschichte des Ex-CIA-Agenten Peter Sichel, der seinerzeit den Ausbruch des Kalten Kriegs beschleunigte

von Manfred Riepe  17.11.2025

Miss-Universe-Show

Miss Israel erhält Todesdrohungen nach angeblichem Seitenblick

Auch prominente Israelis sind immer öfter mit Judenhass konfrontiert. Diesmal trifft es Melanie Shiraz in Thailand

 17.11.2025

Aufgegabelt

Noahs Eintopf

Rezepte und Leckeres

 16.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025