Kunst

Europa am Abgrund

Es war Zufall, dass das Musée National d’Histoire et d’Art Luxembourg (MNHA) bereits vor Kriegsbeginn Kontakt mit dem Künstler aufgenommen hatte. Maxim Kantor, ein jüdischer Kosmopolit mit russischer, deutscher und argentinischer Staatsangehörigkeit, der in Frankreich lebt, ist für seine kritische Haltung gegenüber dem Putin-Regime bekannt. Er war sofort bereit, eine Ausstellung mit politischen Werken auf die Beine zu stellen. In nur sechs Wochen wurde die Schau aus dem Boden gestampft

Die 66 Werke Kantors – 27 Leinwand-Gemälde und 39 Grafiken – wirken im Angesicht des Krieges in der Ukraine geradezu prophetisch. Aus beinahe allen Bildern springt einem das verzerrt-verfremdete Gesicht Putins und weiterer Herrscher wie Stalin entgegen. Andere zeigen gepeinigte Menschen auf der Flucht, die Gesichter verzogen wie in Munchs »Der Schrei«.

apokalypse Kantors apokalyptische Szenarien erinnern an die eklektischen Bildwelten eines Hieronymus Bosch, zeugen aber auch vom Einfluss anderer großer Meister von Pieter Brueghel bis Francisco de Goya.

1972 wurde Maxim Kantor von der 9. Spezialschule in Moskau verwiesen, weil er antisowjetische Wandzeitungen veröffentlicht hatte.

Sein Parcours ist der eines eigenwilligen Außenseiters. 1972 wurde das Enfant terrible von der 9. Spezialschule in Moskau verwiesen, weil er antisowjetische Wandzeitungen veröffentlicht hatte. Er verließ den kommunistischen Jugendverband und war in Dissidentengruppen aktiv. 1992 verließ er Moskau; ab 2004 lebte er in Berlin, London und derzeit auf der Île de Ré.

Seit Mitte der 1990er-Jahre hat Kantor bereits wiederholt in Luxemburg ausgestellt. Seine Werke wurden im Großherzogtum an großen Kulturhäusern und renommierten Galerien gezeigt, darunter in der Abtei Neimënster, in der Villa Vauban und der Galerie Simoncini. 1997 sorgte er mit seiner Ausstellung Criminal Chronicle für Aufsehen, als er Russland auf der 47. Biennale in Venedig vertrat. Heute zieren seine großformatigen provokativen Gemälde sogar die Wände im Auswärtigen Amt in Berlin.

chronik Sein vielseitiges künstlerisches Werk erschließt sich erst, wenn man es in seiner Gesamtheit betrachtet. Kantors Roman Rotes Licht ist eine ernüchternde Chronik Russlands des vergangenen Jahrhunderts. Neben dem Schreiben organisiert er Puppenspiele und Musikprojekte, etwa mit dem Violinisten Gidon Kremer.

Seine Gemälde konzipiere er aus der Sicht eines Schriftstellers als Handlung eines Romans – ständig Tolstoi und Pasternak im Hinterkopf, so Kantor in seinem Katalogbeitrag zum Selbstverständnis von Kunst. Sein Vater, der Philosoph Karl Kantor, prägte ihn stark mit seinem Kantianismus.

Sein Roman »Rotes Licht« ist eine ernüchternde Chronik Russlands des vergangenen Jahrhunderts.

Die massive russische Emigration habe nichts mit dem Zusammenbruch des Russischen Reiches zu tun: Nichts sei heute so lebendig wie die Idee des russischen Staates. Russische Künstler, Schriftsteller und Philosophen verließen das Land, weil sie sich nicht mehr mit ihm identifizieren konnten. Die russische Kultur stehe in ständiger Konfrontation mit der russischen Staatlichkeit.

STALINISMUS »In Russland erleben wir einen dem Stalinismus ähnlichen Prozess, der die sozialistische Republik fast augenblicklich in ein militaristisches autokratisches Imperium verwandelt hat«, sagt der Künstler. Sein Werk »Der Staat« (1995) ist eines der eindrucksvollsten in der Ausstellung in Luxemburg. Bei dem in Rot und Schwarz gehaltenen Gemälde in Ölfarben laufen die Köpfe politischer Führer in der Mitte des Bildes zusammen, umgeben von drei weiteren Kreisen: eine Aneinanderreihung von Musikern, Soldaten und Menschen mit Fratzen.

»Der Staat« von 1995 knüpft an Kantors frühere Gemälde an, die in parodistischer Anlehnung an Platons Politeia die drei Gesellschaftsschichten der Sowjetunion darstellen: die ideologischen Machthaber im Zentrum, den Polizeiapparat in der Mitte und die einfachen Untertanen an der Peripherie. Eine vierte Schicht besteht aus den Profiteuren der neuen Gesellschaft. Sie feiern, kopulieren, machen Musik und tanzen.

So karikiert Kantor die neuen Oligarchen als Profiteure. Schon vor Jahren habe der Philosoph Eric Hobsbawn, ein Freund Kantors, den Künstler gewarnt: »Wir sind Zeugen eines einzigartigen Prozesses, des umgekehrten Verlaufs der Geschichte, des Prozesses der Umwandlung eines nationalen Produkts in feudales Eigentum.«

roulette-spiel Ähnlich eindrucksvoll ist Kantors Gemälde »Rose of Civilization« (2022), das an ein Roulette-Spiel denken lässt. Im Zentrum ein rotes Kreuz, umgeben von einem Stern, in Flöten blasenden Menschen mit Heiligenschein oder loderndem Haar, darum gruppiert politische und religiöse Führer. An den Rändern läuft das einfache Volk in gebückter Haltung. Im Kreis finden sich Symbole wie der Sowjetstern neben Hammer und Sichel, aber auch ein Hakenkreuz.

Auf dem Gemälde »Open Society« (2002) erdrückt sich eine Menschenmasse. – In Kantors »Offener Gesellschaft« besteht die Welt in Russland ausnahmslos aus Feinden, Poppers Liberalismus ist Schnee von gestern. Die Graphik »Leviathan« (2003-2004) zeigt ein Nilpferd mit aufgerissenem Maul, das neben einem Menschen in seinem Bauch unter anderem einen orthodoxen Geistlichen und ein Gebetshaus trägt.

Das Gemälde »Brown Spring« (2016) zeigt eine Masse, darunter Tiere und Fabelwesen. Einige in der Menge tragen Bilder des Nazi-Führers, die wie Kinderzeichnungen aussehen; manche strecken ihre Arme wie zum Hitlergruß heraus.Kantors Figuren lassen einen hier an die Gemälde Georg Grosz’ aus der Weimarer Zeit denken, in der die Menschen ähnlich triebgesteuert und voller Kriegsgelüste sehend ihrem Untergang entgegentaumelten.

Herzstück der Schau ist das als Leitmotiv stehende Werk »The Rape of Europe« (2022).

Herzstück der Schau ist das als Leitmotiv stehende Werk »The Rape of Europe« (2022). Es zeigt auf rosa eingefärbtem Hintergrund einen Teufel, der eine Säule aus dem Boden reißt, am Rand ein umstürzendes Gebetshaus. Am Boden tummeln sich Schweine, die vor dem Gewaltherrscher niederknien, und Ratten.

FROSCHKÖNIG In einer Serie aus in Schwarz und Rot gehaltenen Grafiken springt einem mit »Russian Sphinx« (2000–2021) eine Mischung aus Mensch, Bär und Schwein entgegen. In anderen erscheint Putin mal als Aladdin, mal als Froschkönig, dann wieder als Teufel, magisch und wahnsinnig zugleich.

»Ich möchte, dass dieser Krieg, der für Russland beschämend und für die Ukraine katastrophal ist, so schnell wie möglich beendet wird. Wenn er nur nicht zu einem Weltkrieg würde«, schreibt Kantor, den man selbst als Flüchtenden auf dem Gemälde »Travelling Comedians« (2015) zu erkennen meint, im begleitenden Katalog.

Die Schau wird in Zusammenarbeit mit dem Luxemburger Roten Kreuz präsentiert. Ein Verein ukrainischer Geflüchteter in Luxemburg empfand die Ausstellung als beleidigend und lehnt die von Kantor angekündigte Aufteilung eventueller Erlöse sowohl an ukrainische als auch russische Familien, die er gleichermaßen als Opfer sieht, vehement ab.

Doch die Kuratoren ruderten nicht zurück. Die »Vergewaltigung Europas«, ebenfalls eine Anspielung auf Putins misogyne Rhetorik, ist längst traurige Realität und einer Lethargie gewichen. Erschütternd wirkt hingegen diese Ausstellung, die das gelähmte Europa eindrucksvoll vor dem Abgrund warnt.

Die Schau ist noch bis 16. Oktober im Museum MNHA zu sehen.

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