Psychoanalyse

»Ein Tod im Lager ist immer ein Mord«

Anne-Lise Stern (1921–2013) Foto: PR

Psychoanalyse

»Ein Tod im Lager ist immer ein Mord«

Die deutsch-französische Überlebende Anne-Lise Stern beschäftigt sich in ihren Erinnerungen mit dem Trauma der Schoa

von Galina Hristeva, Roland Kaufhold  17.12.2020 10:12 Uhr

Anne-Lise Stern, 1921 in Berlin geboren und in Mannheim aufgewachsen, war 1933 als Jüdin mit ihren sozialistisch engagierten Eltern Heinrich und Käthe nach Frankreich geflohen. Im Exil studierte sie Psychologie, wurde 1944 verschleppt und überlebte ein Jahr Konzentrationslagerhaft in Auschwitz, Bergen-Belsen und Theresienstadt. Nach ihrer Befreiung blieb sie in Frankreich. In Nizza hatte sie sich 1943 mit der zwei Jahre jüngeren Eva angefreundet, einer Enkeltochter Sigmund Freuds. Anfang 1944 wurde Eva verhaftet, wenig später starb sie an den Folgen einer Infektion.

Im Sommer 1945 verfasste sie ihre literarischen Erinnerungen an die Lager.

Im Konzentrationslager entdeckte Anne-Lise Stern ihren Überlebenswillen, sie schrieb 1945 über »diese unheimliche und idiotische, wunderbare Kraft, die wollte, dass ich leben sollte«. Sie beschreibt die seelischen Anpassungsleistungen an die brutale Realität: »Jetzt verstanden wir: los, los – schneller, schneller – raus, raus. Blitzartig dämmerte uns so einiges.« Deutsch war durch die Nationalsozialisten einer »unglaublichen Perversion« unterzogen worden, war zur Sprache der Vernichtung geworden: »Lange Zeit wollte ich durchaus nicht Deutsch sprechen hören.«

LACAN Im Sommer 1945 verfasste Stern literarische Erinnerungen an die Lager. Später wurde sie in Frankreich Psychoanalytikerin als Schülerin von Jacques Lacan. Hierzulande blieb ihr Name selbst in Fachkreisen unbekannt. Ihr Weg zur Psychoanalyse war mit einer Rückkehr zur deutschen Sprache verbunden. Wie Bruno Bettelheim, Hans Keilson, Ernst Federn und andere Überlebende arbeitete Anne-Lise Stern als Kinderanalytikerin mit psychisch sehr kranken Kindern: »Auch für mich wurde es eine Lebensaufgabe, eine bestimmte Art von wie Abfall segregierten Kindern aus ihrer Verlassenheit herauszuhelfen.«

Von 1969 bis 1972 arbeitete sie in Paris an einem psychoanalytischen Modellprojekt für mittellose Patienten, das sie mit den deutschen Wiedergutmachungsgeldern ihrer kurz zuvor verstorbenen Mutter finanzierte. Innerlich identifizierte sie sich mit Bettelheim: »Man hielt ihn für nicht vertrauenswürdig, ein Traumatisierter.« Von ihrer eigenen Zunft war sie enttäuscht: »Im Allgemeinen sprechen die Psychoanalytiker kaum von den Nachwirkungen der Lager und der ›Endlösung‹ auf die Psychoanalyse selbst.« Ihre Darstellungen sind von einer Aporie geprägt: »Kann man Psychoanalytiker werden, nachdem man nach Auschwitz deportiert wurde? Die Antwort ist: ›nein‹. Kann man heute noch Psychoanalytiker sein, ohne diese Erfahrung? Die Antwort ist nochmals: ›nein‹.«

PSEUDONYM 1969 erschien in Frankreich unter einem Pseudonym das Buch zweier Psychoanalytikerinnen. Der Titel – L’Univers contestationnaire – spielte auf den Roman von David Rousset an, den dieser nach seiner Rückkehr aus Buchenwald geschrieben hatte. Stern veröffentlichte eine zornige Replik, gekennzeichnet nur mit ihrer Auschwitznummer 78765, einem Dreieck und der Berufsbezeichnung Psychoanalytikerin.

Das öffentliche Auftreten von Schoaleugner in Frankreich war für sie ein Schock.

Das offensive Auftreten von Schoaleugnern wie Robert Faurisson in Frankreich war für Stern ein Schock. 1978 schrieb dieser in »Le Monde«: »Die Nichtexistenz der Gaskammern« sei eine »gute Botschaft für die arme Menschheit«. »Als Deportierte habe ich sofort die psychoanalytischen Kollegen um Hilfe gebeten. Sie konnten aber nicht nachvollziehen, warum dringend gehandelt werden musste.«

VERLEUGNUNG Sie veranstaltete nun psychoanalytische Seminare zur Erinnerung an die Schoa. Unermüdlich, kompromisslos und voller Leidenschaft mahnte sie an die in den Lagern verübten Morde. Das Erinnern erwies sich jedoch als unmöglich: »Das ist eine Auschwitz-Überlebende, die uns seltsame Geschichten erzählt«, war eine häufige Reaktion. Stern störte den kollektiven Verleugnungsprozess. Da komme sie »immer wieder mit ihrer ›persönlichen‹ Geschichte! Ach, die Arme. Immer noch gebrandmarkt durch ihre Deportation, trotz 20 Jahren Psychoanalyse. Und dann auch noch die Nummer, eintätowiert in ihre Haut.«

Selbst die Analyse bei Lacan war nur begrenzt hilfreich: »Die Lager und Lacan, das ist durchaus nicht dasselbe. Ich denke ausschließlich an das! Oder genauer gesagt: Es denkt sich für mich, diese Nummer von Auschwitz, die in meinen Arm eintätowiert ist. Ob ich spreche oder nicht, die übrigen Psychoanalytiker wissen ja, dass ich dort war.« Die Überlebensschuld treffe am stärksten auf Lagerüberlebende zu, »die dort unten, an ihrer Seite und beim Geruch von verbranntem Fleisch einen Verwandten, einen Bruder verloren haben«. Diese sei »das Gewicht, unter dem die Nachgeborenen zermalmt werden. Die wollen sie dann gern auf uns abladen, die Überlebenden«.

Anne-Lise Stern: »Früher mal ein deutsches Kind. Auschwitz, Geschichte, Psychoanalyse«. Psychosozial, Gießen 2020. 377 S., 39,90 €

Kino

Düstere Dinosaurier, frisches Starfutter

Neuer »Jurassic World«-Film mit Scarlett Johansson läuft in Deutschland an

von Ronny Thorau  01.07.2025

Berlin

Ausstellung »Die Nazis waren ja nicht einfach weg« startet

Die Aufarbeitung der NS-Zeit hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Wendungen genommen. Eine neue Ausstellung in Berlin schaut mit dem Blick junger Menschen darauf zurück

von Lukas Philippi  01.07.2025

München

Fritz-Neuland-Gedächtnispreis gegen Antisemitismus erstmals verliehen

Als Anwalt stand Fritz Neuland in der NS-Zeit anderen Juden bei. In München wird ein nach ihm benannter Preis erstmals verliehen: an Polizisten und Juristen, die sich gegen Antisemitismus einsetzen

von Barbara Just  30.06.2025

Forschung

Digitales Archiv zu jüdischen Autoren in der NS-Zeit

Das Portal umfasst den Angaben zufolge derzeit rund eine Million gespeicherte Informationen

 30.06.2025

Medien

»Ostküsten-Geldadel«: Kontroverse um Holger Friedrich

Der Verleger der »Berliner Zeitung« irritiert mit seiner Wortwahl in Bezug auf den jüdischen Weltbühne-Gründer-Enkel Nicholas Jacobsohn. Kritiker sehen darin einen antisemitischen Code

von Ralf Balke  30.06.2025

Berlin

Mehr Bundesmittel für Jüdisches Museum

Kulturstaatsminister Wolfram Weimer betonte, sichtbares jüdisches Leben gehöre zur Mitte der Gesellschaft

 30.06.2025

Großbritannien

Nach Anti-Israel-Eklat bei Glastonbury: BBC gibt Fehler zu

Ein Musiker wünscht während einer BBC-Übertragung dem israelischen Militär von der Festival-Bühne aus den Tod. Die Sendung läuft weiter. Erst auf wachsenden Druck hin entschuldigt sich die BBC

 30.06.2025

Glastonbury-Festival

Anti-Israel-Parolen: Britischer Premier fordert Erklärung

Ein Musiker beim Glastonbury-Festival in England fordert die Menge dazu auf, Israels Militär den Tod zu wünschen. Der Vorfall zieht weite Kreise

 30.06.2025

Essay

Die nützlichen Idioten der Hamas

Maxim Biller und der Eklat um seinen gelöschten Text bei der »ZEIT«: Ein Gast-Kommentar von »WELT«-Herausgeber Ulf Poschardt

von Ulf Poschardt  29.06.2025