Bildung

»Du Jude«: Experten sehen Änderungsbedarf in deutschem Bildungswesen

Foto: Thinkstock, Illustration: Marco Limberg

»Du Christ!« – Wäre es denkbar, dass auf Schulhöfen in Deutschland jemand mit diesen Worten beleidigt würde? Wohl kaum. Dagegen ist »Du Jude« zu einem gängigen Schimpfwort beziehungsweise einer Anmache geworden, nicht mehr nur auf Schulhöfen.

Mit diesem Gedankenspiel in der Einleitung des neuen Buches Du Jude - Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen scheint gleich die gesamte Komplexität des Themas Antisemitismus auf.

Der Band wird herausgegeben vom Zentralrat der Juden in Deutschland und versammelt Beiträge zahlreicher prominenter Autoren wie zum Beispiel Julia Bernstein, Andreas Zick, Felix Klein, Michael Blume, Natan Sznaider, Christian Staffa, Monika Schwarz-Friesel, Micha Brumlik und Stefanie Schüler-Springorum. Zum Teil gehen sie auf eine Konferenz zum Thema in Frankfurt am Main zurück.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Die Ansprache »Du Jude« ist eigentümlich: »Sachliche Wortbedeutung und diskriminierende Zuschreibung verbinden sich mit ein und derselben Vokabel«, schreiben Doron Kiesel und Thomas Eppenstein zu Beginn des Buches. Damit ziele die Äußerung »auf die nackte Existenz« und nehme Züge einer allgemeinen Verunglimpfung an - sprich: Mit »Du Jude!« kann im Grunde jeder angemacht werden.

ALLTAG »Antisemitismus ist damit ein umfassendes Phänomen der Ausgrenzung, das unabhängig von Alter, Religion, Herkunft, Bildungsabschluss, Geschlecht oder Hautfarbe auftritt«, so die Autoren. Das reicht von offener Aggression bis hin zu scheinbar beiläufigen Bemerkungen im Alltag. Und weil Antisemitismus so umfassend ist, müsse sich auch die gesamte Gesellschaft mit ihm auseinandersetzen.

Was also hilft? Die Expertin Greta Zelener plädiert auf der einen Seite für Besuche in Museen und KZ-Gedenkstätten, auf der anderen Seite zusätzlich für interreligiöse Begegnungen.

Das ist nicht leicht und außerdem unbequem. Denn wegen seiner Komplexität vergleichen die Autoren den Antisemitismus mit einem Virus, das mutiert. Das Buch will über Antisemitismus mit Hilfe der Wissenschaft aufklären, und »nicht zuletzt« sollen Impulse zu einer Veränderung der Bildungslandschaft gesetzt werden. Diese sei momentan mit Blick auf eine antisemitismuskritische Bildung »noch weitgehend fragmentiert und befangen«. Der Sammelband gibt Pädagogen Ratschläge, wie sie im Fall von Antisemitismus reagieren können.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, nimmt in seinem Beitrag die Rahmenbedingungen an Schulen in den Blick und fordert, dass antisemitische Vorfälle Konsequenzen haben müssten. »So halte ich die Einrichtung eines Meldesystems für antisemitische Vorfälle in den Schulen für zwingend geboten.« Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Uwe Becker, gibt zu bedenken, dass Lehrer und Pädagogen über das Wissen verfügen müssten, um gegen Juden gerichtete Äußerungen oder Angriffe als solche zu erkennen.

BEGEGNUNGEN Greta Zelener, die zu jüdischer Erwachsenenbildung im 21. Jahrhundert forscht, plädiert auf der einen Seite für Besuche in Museen und KZ-Gedenkstätten, auf der anderen Seite zusätzlich für interreligiöse Begegnungen, bei denen gekocht oder Musik gemacht werde – so könnten alltägliches Judentum gezeigt und Berührungsängste abgebaut werden und sogar Freundschaften entstehen.

»Neunzig Minuten in der Woche können nur eine begrenzte Wirkung entfalten – aber neunzig Minuten sind auch nicht nichts.«

Der evangelische Pfarrer Martin Vahrenhorst, der den Umgang mit Antisemitismus im christlichen Religionsunterricht beleuchtet, betont, dass er in den Lehrplänen vornehmlich als historisches Thema auftauche. Wenn Schülern im Religionsunterricht Toleranz vermittelt werde, sei dies ein »Beitrag zu einer Bekämpfung antisemitischer Denkmuster«. Lehrer sollten da Vorbilder sein. Vahrenhorst hält fest: »Neunzig Minuten in der Woche können nur eine begrenzte Wirkung entfalten – aber neunzig Minuten sind auch nicht nichts.«

VERSTÄNDNIS Der Antisemitismusbeauftragte von Baden-Württemberg, Michael Blume, warnt davor anzunehmen, dass formale Bildung immun gegen Judenfeindschaft mache: »Die Mehrzahl der Teilnehmer an der Wannseekonferenz, die die Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden plante, trug - meist juristische - Doktortitel.«

Über antisemitische Maßnahmen hätten jüdische Konkurrenten ausgeschaltet werden können. Blume plädiert daher dafür, den Bildungsbegriff weg vom Formalen und von Titeln hin zu einem ganzheitlichen, tiefen Verständnis zu öffnen.

Hrsg. vom Zentralrat der Juden in Deutschland: » ›Du Jude‹ - Antisemitismus-Studien und ihre pädagogischen Konsequenzen«, Hentrich & Hentrich, 272 S., 22,90 €

München/Gent

Charlotte Knobloch spricht von »historischem Echo«

Nach der Ausladung des israelischen Dirigenten Lahav Shani von einem Musikfestival meldet sich Charlotte Knobloch mit deutlichen Worten

 11.09.2025

Belgien

Deutsche Botschaft beendet Partnerschaft mit Gent-Festival

Die Deutsche Botschaft in Brüssel hat nach der Ausladung der Münchner Philharmoniker ihre Zusammenarbeit mit dem Flandern-Festival in Gent eingestellt

von Michael Thaidigsmann  11.09.2025

Debatte

Zentralrat nennt Ausladung Shanis »fatales Signal«

Wer einen Künstler aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder seiner jüdischen Religion ausgrenzt und diskreditiert, trete die Demokratie mit Füßen

 11.09.2025

Meinung

Lasst uns nicht alleine!

Nach dem Canceln von Lahav Shani durch das Flandern-Festival in Genf befürchtet Maria Ossowski, dass Juden Europa jetzt verlassen wollen

von Maria Ossowski  11.09.2025

Belgien

Argerich, Maisky, Schiff empört über Gent-Festival

Bekannte jüdische und nichtjüdische Musiker haben eine Petition gestartet, um gegen die Ausladung der Münchner Philharmoniker und ihres Dirigenten Lahav Shani zu protestieren

 11.09.2025

Film

»Honey Don’t!«

Im zweiten Teil der »queeren B-Movie-Trilogie« von Ethan Coen ermittelt Margaret Qualley als lesbische Privatdetektivin in einer Mordserie

von Jannek Suhr  11.09.2025

Cancel Culture

»Die beste Waffe ist weiterzumachen«

Anti-Israel-Kampagnen führen zunehmend auch zum Cancelling von Künstlern. Der Musiker David Hermlin sagt, er erlebe es gerade in der Swing-Szene. Ein Gespräch über offenen Hass und wie man damit umgeht

von Sophie Albers Ben Chamo  11.09.2025

Meinung

Gent: Boykottiert die Boykotteure!

Dass die Münchner Philharmoniker in Gent nicht auftreten dürfen, weil sie mit Lahav Shani einen israelischen Dirigenten haben, ist eine Schande - und erfordert eine deutliche Antwort deutscher Kulturschaffender

von Michael Thaidigsmann  10.09.2025

Belgien

Festival lädt Philharmoniker mit Dirigent aus Israel aus

Wenige Tage vor einem Auftritt in Belgien wird dem Orchester aus München abgesagt. Der Grund: Sein designierter Chefdirigent habe sich angeblich nicht eindeutig von Israels Regierung distanziert

 11.09.2025 Aktualisiert