TV-Tipp

Die verlorene Zeit

Szene aus »Die verlorene Zeit« Foto: Tom Trambow

Erinnerung kommt nie als Ganzes. Sie ist von Anfang an zerrissen», schreibt eine Frau, die sich noch nicht zu erkennen gegeben hat, zu Beginn in ihr Tagebuch. Nach wahren Begebenheiten hat Drehbuchautorin Pamela Katz sich daran gemacht, die Scherben dieser Erinnerungen und Berichte zusammenzutragen.

Dabei stürzt Katz gemeinsam mit Regisseurin Anna Justice die Zuschauer mitten hinein in ein unruhiges, widersprüchliches Mosaik aus Eindrücken und Bildern, aus inniger Grausamkeit und kühler Distanz, aus Schmutz, Erniedrigung und scheinbar glatt polierten Oberflächen. In verengten Blicken, in der wackelnden Nervosität der Handkamera setzt sich langsam eine erste Vorstellung zusammen vom tatsächlichen Anfang der Geschichte.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist wohl nicht mehr fern, als sich die deutsche Jüdin Hannah Silberstein (Alice Dwyer) und der polnische Widerstandskämpfer Tomasz Limanowski (Mateusz Damiecki) im KZ ineinander verlieben. Der von Gewalt und Schikane im Lager geprägte Alltag - mit selten gesehenen Blitzen der körperlichen Leidenschaft - erscheint in den entsättigten Farben, die längst zur filmischen Darstellungskonvention geworden sind; eine fahle, dunkle Welt fast ohne Rot und Blau.

Auch so lässt sich ein scharfer Kontrast setzen zum New York der 1970er-Jahre. Dort schreibt Hannah Levine, wie sie nun heißt und die nun von Dagmar Manzel dargestellt wird, ins Tagebuch und sucht so ihre Erinnerungen zusammenzufügen. Gleichzeitig - und das ist die Kehrseite dieses an sich effektiven inszenatorischen Konzepts - lässt sich eine ästhetisch derart eindeutig markierte Historie auch leichter, womöglich allzu leicht, vom Leibe halten und zu einem abgeschlossenen Kapitel erklären.

Andererseits dreht sich alles in dieser Erzählung um die anhaltende Macht der Vergangenheit, um das sich Erinnernmüssen. Warum Hannah - die in New York verheiratet und Mutter einer Tochter ist - eingangs dabei gezeigt wurde, wie sie Tischdecken in der Reinigung abholt, das erschließt sich nicht sofort, aber doch ziemlich bald: In dem Laden läuft der Fernseher, und in einer Talkshow erzählt ein Mann von seinen KZ-Erfahrungen - und von der Frau, die er in dieser Hölle geliebt hat. Dieser Mann, so erkennt Hannah, muss Tomasz sein.

Der Zuschauer begreift: Die beiden müssen einander aus den Augen verloren haben, aber wann und wo und wie? Der Film springt weiter zwischen Vorvergangenheit und den 1970ern, führt seine Handlungsstränge aber jeden für sich zunehmend geordnet weiter. Mit einem wagemutigen Trick gelang Hannah und Tomasz einst die Flucht aus dem KZ, sie schlugen sich bis zu seiner Familie durch. Die Mutter (Susanne Lothar), eine strenge Katholikin, war entsetzt über die Partnerin, die Tomasz mitbrachte. Drei Jahrzehnte später will Hannah in New York das Rote Kreuz mit der Suche nach Tomasz beauftragen. Eine Spannung schleicht sich ein in ihre Familie, über der nun - von den anderen zunächst unbemerkt - der Schatten eines Dritten hängt.

Es schadet dem chronologisch später angesetzten Handlungsstrang durchaus, dass seine Konflikte mit der existenziellen Not der Kriegszeit nicht annähernd mithalten können. Die sorgfältige Ausstattung von Hannahs New Yorker Wohnung, die sicher geführten, langsamen Kamerabewegungen, in denen sich diese geordnete Umgebung erschließt, der Wohlstand, der darin zum Ausdruck kommt - all dies geht mit dem bewusst reduzierten Spiel beinahe aller Darsteller der verschiedenen Handlungsstränge in diesen speziellen Szenen eine arg entschleunigte Allianz der Betulichkeit ein.

Die größte Stärke dieser Geschichte um verlorene Jahre jedoch ist es, menschliche Biografien in ihren Brüchen zu erzählen: in Brüchen, die hier auch zu erzählerischen Brüchen werden und darauf verzichten, die Verbrechen der Nazis einer straff und künstlich durchkomponierten Handlung zu unterwerfen.

«Die verlorene Zeit», Freitag, 16. April, 20.15 - 22.00 Uhr, Arte.

Glosse

Der Rest der Welt

Friede, Freude, Eierkuchen oder Challot, koschere Croissants und Rugelach

von Margalit Edelstein  09.11.2025

Geschichte

Seismograf jüdischer Lebenswelten

Das Simon-Dubnow-Institut in Leipzig feiert den 30. Jahrestag seiner Gründung

von Ralf Balke  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025

Theater

Metaebene in Feldafing

Ein Stück von Lena Gorelik eröffnet das Programm »Wohin jetzt? – Jüdisches (Über)leben nach 1945« in den Münchner Kammerspielen

von Katrin Diehl  09.11.2025

Aufgegabelt

Mhalabi-Schnitzel

Rezepte und Leckeres

 09.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  09.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  08.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  08.11.2025

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025