Redezeit

»Die Toten dürfen nie vergessen werden«

Zeitzeugin Sara Atzmon Foto: Ilona Rothin

Frau Atzmon, in der vergangenen Woche wurde beim Internationalen Filmfest Braunschweig die Dokumentation »Holocaust light – gibt es nicht!« vorgestellt. Worum geht es in dem Film?
Die Regisseurin Ilona Rothin erzählt die Geschichte meines Lebens. Sie zeigt, wie ich mit meiner zwölfjährigen Enkelin jene Orte in Ungarn, Österreich und Deutschland besuche, an denen die Nazis mich quälten und meinen Vater sowie drei meiner Geschwister töteten. Mit dieser Reise und dem Film schloss sich für mich in gewisser Weise der Kreis.

Mit welchen Gedanken und Gefühlen war es verbunden, an diese Orte zurückzukehren?
Es war unendlich schwer, sich all dem noch einmal zu nähern. Ich habe Schlimmstes im Ghetto von Debrecen, im Zug auf dem Weg nach Auschwitz und in den Konzentrationslagern Bergen-Belsen und Strasshof erlebt. Dort habe ich meine psychische und physische Gesundheit verloren. Als die Amerikaner uns 1945 befreiten, war ich zwölf Jahre alt und wog nur noch 17 Kilogramm. Trotzdem war es richtig, für den Dokumentarfilm dorthin zurückzukehren.

Weshalb?
Ich traf an diesen Orten die Seelen der Ermordeten und redete mit ihnen. Als Holocaust-Überlebende ist es meine Pflicht, mich an die all die ausgelöschten Seelen zu erinnern. Die Toten dürfen nie vergessen werden. Ich denke zum Beispiel an Anne Frank, die ich damals in Bergen-Belsen jeden Tag sah, aber auch an all die Namenlosen. Der Film ist ein Denkmal, ein bleibendes Gedenken der Opfer.

Wie waren in Braunschweig die Reaktionen auf den Film?
Bei der Premiere waren 200 Schüler anwesend. Man hätte während der Vorstellung eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Hinterher haben mir die Jugendlichen viele Fragen gestellt. Manche fragten: Haben Sie das wirklich alles erlebt, Frau Atzmon? Wie konnte das alles bloß geschehen?

Sie reisen mehrmals im Jahr von Israel nach Deutschland, um Schülern von Ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Was treibt Sie dabei an?
Ich möchte die jungen Menschen darüber aufklären, was ich als junges Mädchen während der Schoa erlebt habe. Das hat für mich etwas Therapeutisches. Nur wenn man über seine Traumata spricht, kann man geheilt werden. Auf der anderen Seite möchte ich den Schülern immer wieder auch klarmachen: »Ihr tragt keine Schuld für das, was geschehen ist. Schuld ist stets etwas Personales. Aber ihr tragt als Deutsche die Verantwortung dafür, dass so etwas in eurem Land oder anderswo nie wieder passieren darf.«

Der Film zeigt, dass nicht wenige Jugendliche noch nie von Bergen-Belsen oder Auschwitz gehört haben. Kommen Sie in solchen Momenten ins Zweifeln?
Solche Erfahrungen mache ich in der Tat immer wieder, und sie sind jedes Mal aufs Neue ein Schock. Bei uns in Israel wissen alle, was passiert ist. Wir waren schließlich die Opfer. Aber ob ich wegen der historischen Wissenslücken von deutschen Schülern aufhöre, meine Geschichte zu erzählen? Auf keinen Fall! Es ist wichtig, dass ich als Zeitzeugin – auch wenn es für beide Seiten beschwerlich und anstrengend ist –weiterhin von meinem Leben berichte.

Mit der israelischen Malerin sprach Philipp Peyman Engel.

Weitere Informationen zum Film auf www.holocaustlight-film.com



Sara Atzmon wurde 1933 als vierzehntes von 16 Kindern in Hajdunanas geboren. Als Juden im faschistischen Ungarn systematisch verfolgt und ermordet werden, ziehen die Nazis Saras Vater und vier ihrer Brüder zur Zwangsarbeit ein. Für Sara beginnt ein Leben in Angst und Demütigung. Sie wird unter anderem ins Ghetto nach Debrecen und ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert. Als die Alliierten 1945 Bergen-Belsen befreien, ist Atzmon zwölf Jahre alt. Über Paris und Marseille gelangt sie mit ihren Geschwistern am 16. Juli 1945 mit dem ersten Einwanderungsschiff nach Haifa. In Israel tritt sie 1951 in die Armee ein. Wenig später heiratet sie den in Israel geborenen Uri Atzmon. Ende der 80er-Jahre beginnt Sara Atzmon mit der Malerei, verarbeitet ihre Erlebnisse in der NS-Zeit und organisiert Ausstellungen. Seitdem stellt sie ihre Bilder in der ganzen Welt aus.

Computerspiel

Lenny Kravitz wird James-Bond-Bösewicht

Als fieser Schurke will der Musiker im kommenden Jahr dem Agenten 007 das Leben schwer machen – allerdings nicht auf der Kinoleinwand

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025

Aufgegabelt

Latkes aus Dillgürkchen

Rezepte und Leckeres

 12.12.2025

Kulturkolumne

Lieber Chanukka als Weihnachtsstress?

Warum Juden es auch nicht besser haben – was sich spätestens an Pessach zeigen wird

von Maria Ossowski  12.12.2025

Kommerz

Geld oder Schokolade?

Der Brauch, an den Feiertagen um Münzen zu spielen, hat wenig mit den Makkabäern oder dem traditionellen Chanukkagelt zu tun. Der Ursprung liegt woanders

von Ayala Goldmann  12.12.2025

Glosse

Der Rest der Welt

Singend durch Paris oder Warum unser Chanukka-Song der beste ist

von Nicole Dreyfus  12.12.2025

Literatur

Deutsch-Hebräischer Übersetzerpreis für Helene Seidler

Die Schriftstellerin wurde für die Übersetzung des Romans »Unter Freunden stirbt man nicht« von Noa Yedlin ausgezeichnet

 12.12.2025

Zürich

Protest gegen ESC-Teilnahme Israels: Nemo gibt Pokal zurück

Mit der Zulassung Israels verrate der Gesangswettbewerb seine Werte von »Einheit, Inklusion und Würde für aller Menschen«, so Nemo

 12.12.2025

Meinung

Nemo unverbesserlich

Nemo gibt mit Rückgabe der ESC-Siegertrophäe auch Haltung ab. Statt Rückgrat zu zeigen, schwimmt das Schweizer Gesangswunder von 2024 im postkolonialen Strom mit

von Nicole Dreyfus  12.12.2025