Buchkunst

Die Seiten ändern sich

Jonathan Safran Foer ist das Wunderkind der amerikanischen Literatur. Schon mit seinem ersten Roman Alles ist erleuchtet wurde er weltberühmt, da war er gerade 25 Jahre alt; es folgte Extrem laut und unglaublich nah mit fast ebenso großem Erfolg. Auch das Sachbuch Tiere essen fand weltweit Beachtung, allein in Deutschland sind inzwischen 150.000 Exemplare verkauft.

Jetzt hat Foer ein neues Buch … tja, »geschrieben« kann man nicht sagen. Er hat es aus einem anderen Roman ausgeschnitten, seinem Lieblingsbuch, Die Zimtläden von Bruno Schulz (englisch Street of Crocodiles). Der 1942 ermordete polnisch-jüdische Avantgardist erzählt dort in fantastischen Bildern die Geschichte einer kleinbürgerlichen, jüdischen Kaufmannsfamilie in Galizien am Anfang des 20. Jahrhunderts. Aus diesem Roman hat Foer das allermeiste weggeschnitten, nur einzelne Wörter und Halbsätze stehen gelassen, die zusammen eine neue Geschichte ergeben, die eines »enormen letzten Lebenstages«.

papierskulptur Das Buch herzustellen, war fast genauso aufwendig wie das »Schreiben« selbst. Zunächst waren alle Druckereien, bei denen Foer anfragte, der Meinung, es ließe sich technisch nicht umsetzen. Die belgische Firma »die Keure« hat es schließlich doch geschafft, und so hält man nun ein wundervolles Stück Papierkunst in den Händen – das allerdings nicht so einfach zu lesen ist. Denn weil die Seiten hauptsächlich aus Löchern bestehen, sieht man unter jeder Einzelnen von ihnen immer mehrere darunterliegende andere, erkennt aber nicht sofort, welche Wörter wo stehen. Am besten legt man ein Blatt Papier unter die jeweils aktuelle Seite, die man sehr schnell gelesen hat, denn es stehen ja nur ein paar Wörter darauf. Also blättert man um, schiebt das Einlegeblatt unter die nächste Seite und ist insgesamt so sehr mit der Handhabung dieses Gesamtkunstwerks beschäftigt, dass es schon sehr großer Konzentration bedarf, um dabei auch die erzählte Geschichte wahrzunehmen.

Außerdem muss man die ganze Zeit staunen. Staunen über diese wundervolle Idee, aus einer Geschichte eine andere zu extrahieren, staunen über diese Schichten von Löchern und die Bedeutung, die das einzelne Wort dadurch bekommt, staunen darüber, wie ungeheuer poetisch das Ergebnis ist, und dass man aus einem bestehenden Text einen solchen Rhythmus destillieren kann. Staunen, dass in einer Geschichte eine völlig andere, neue steckt, die aber keineswegs wirkt wie eine Notlösung, sondern geradezu zwingend, als könnten all diese Wörter überhaupt nur in dieser Reihenfolge dastehen, in der sie eben auch bei Bruno Schulz stehen.

übersetzung Genauer gesagt: in der sie in der englischen Übersetzung der Zimtläden stehen. Von wem sie stammt, wird leider nicht erwähnt. Die deutsche Übersetzung von Schulz’ Werk jedenfalls ist von Doreen Daume und preisgekrönt. Und so stellt sich jetzt die Frage: Kann man Foers Werk »übersetzen«? Beziehungsweise kann man aus der deutschen Übersetzung dieselbe Geschichte ausschneiden, die Foer aus der englischen Version geschnitten hat?

Versuchen wir es. Der erste Satz bei Foer lautet: »The passersby (…) had their eyes half-closed. (…) Everyone (…) wore (…) his (…) mask.« Aus Doreen Daumes Übersetzung ließe sich ausschneiden: »Die (…) Passanten (…) hatten die Augen (…) zusammengekniffen. (…) alle trugen sie (…) diese (…) Maske.« Oder »ihre (…) Maske«, falls man auch Wörter durchschneiden darf, denn da steht das Wort »ihren«.

Bis dahin geht es also, danach wird es schwieriger. Dann kommt zweimal ein »smile«, in der deutschen Übersetzung eine »Grimasse«. Und natürlich ist der englische Satzbau anders als der deutsche, manchmal bekommt man ein trennbares Verb nicht so zusammen, dass es in den neuen Satz passt, oder die richtige Präposition fehlt und so weiter. Falls Tree of Codes je auf Deutsch herauskommen sollte, wird das eine völlig neue Herausforderung für den Übersetzer. Er müsste sich stellenweise weiter als sonst vom Originaltext entfernen und bliebe ebenso oft automatisch viel näher dran. Man würde ein ganz neues Verhältnis zwischen übersetzerischen Freiheiten und Beschränkungen erleben. Aber ich denke, es würde funktionieren.

Die Autorin ist Ko-Übersetzerin von Foers »Tiere essen«.
Jonathan Safran Foer: »Tree of Codes«. Visual Editions, London 2011, 285 S., 25,95 €

Medien

Leon de Winter wird Kolumnist bei der »Welt«

Bekannt wurde er vor mehr als 30 Jahren mit Romanen wie »Hoffmanns Hunger«. Jetzt will der niederländische Autor Leon de Winter in Deutschland vermehrt als Kolumnist von sich hören lassen

von Christoph Driessen  29.04.2025

Fernsehen

»Persischstunden«: Wie eine erfundene Sprache einen Juden rettet

Das Drama auf Arte erzählt von einem jüdischen Belgier, der im KZ als angeblicher Perser einen SS-Mann in Farsi unterrichten soll. Dabei kann er die Sprache gar nicht

von Michael Ranze  29.04.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  29.04.2025

Berlin

Antisemitismusbeauftragter für alle Hochschulen soll kommen

Details würden derzeit noch im Senat besprochen, sagte Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra

 29.04.2025

Jerusalem

Seltenes antikes Steinkapitell wird in Israel ausgestellt

Ein Fund aus dem Jahr 2020 gibt israelischen Archäologen Rätsel auf. Die Besonderheit des Steinkapitells aus römischer Zeit: Es ist mit einem mehrarmigen Leuchter - im Judentum Menorah genannt - verziert

 29.04.2025

Berlin

Jüdisches Museum erforscht Audio-Archiv von »Shoah«-Regisseur

Claude Lanzmann hat mit seiner epochalen Dokumentation »Shoah« Geschichte geschrieben. Das Jüdische Museum Berlin nimmt ein Doppeljubiläum zum Anlass, um das umfangreiche Recherchematerial des Regisseurs zu erschließen

von Alexander Riedel  29.04.2025

Köln

»Charlie Hebdo«-Überlebender stellt Comic zu NS-Raubkunst vor

»Zwei Halbakte« heißt ein 1919 entstandenes Gemälde von Otto Mueller. Die Geschichte des Kunstwerks hat der französische Zeichner Luz als Graphic Novel aufgearbeitet. Mit teils sehr persönlichen Zugängen

von Joachim Heinz  28.04.2025

Berlin

»Eine Zierde der Stadt«

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum im denkmalgeschützten Gebäude der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte eingeweiht

 28.04.2025

Paris

»Bambi«-Neuverfilmung: Nah an Felix Saltens Original

Ganz ohne Spezialeffekte und Animation: In Michel Fesslers »Bambi«-Neuauflage stehen echte Tiere vor der Kamera. Das Buch wurde einst von den Nazis verboten

von Sabine Glaubitz  28.04.2025