Analyse

Die neuen alten Grenzen der Solidarität

Wer nur ein einziges Buch lesen möchte, um die andauernde Kritik an Israel - oder drastischer ausgedrückt, den aktuellen Israelhass auf der Straße, im Internet und in den Feuilletons zu verstehen, der muss dieses Buch lesen. Auch wer nur ein einziges Buch lesen möchte, um den unausweichlichen Zusammenhang von Antisemitismus und Antizionismus zu verstehen, der lese dieses Buch.

Der neue Antisemitismus von Jean Améry versammelt sieben höchst aktuelle Texte aus den Jahren 1969 bis 1976 des linken Intellektuellen und einstigen Liebling des deutschen Feuilletons in einem nun neu erschienen Sammelband bei Cotta. Sämtliche Texte dieser Edition könnten heute unverändert wieder so in tagesaktuellen Medien erscheinen.

Lediglich die Namen der historischen Akteure müssten ausgetauscht werden: Menachem Begin oder Moshe Dayan in Benjamin Netanjahu, die Neue Linke in Fridays for Future und so weiter. Das ist beeindruckend, zugleich aber auch erschreckend.

In beeindruckender Klarheit

Améry beschreibt die Blindheit, die Verlogenheit und die irrationale Gedankenwelt der politischen Linken, wenn es um Israel geht. Er benennt in beeindruckender Klarheit den arabischen, muslimischen Antisemitismus, der sich damals wie heute an Israel kristallisiert. Es ist jener Antisemitismus, der einst zwar nur in fernen Ländern beheimatet war, sich heute aber auf unseren Straßen breit macht.

Lesen Sie auch

Der Import dieses muslimischen Judenhasses nach Europa, in die USA, nach Kanada oder Australien war in den späten 60er und frühen 70er Jahren noch nicht absehbar. Aber die Art und Weise, wie er von weiten Teilen der Gesellschaft ignoriert wird, und wie sich westliche Politiker, Staaten und Institutionen - von den Vereinten Nationen bis hin zum Vatikan - vor dem Hintergrund ihrer eigenen Interessen von den arabischen Staaten korrumpieren lassen, sorgte schon damals bei Améry für Unverständnis.

Dass man sich im Westen zwar zu »Nie wieder Auschwitz« bekannte, gleichzeitig den neuen Israel bezogenen Antisemiten aber freien Lauf ließ, erfüllte ihn mit größter Sorge. Genau diese Mischung ist es heute, die jüdisches Leben auf der ganzen Welt bedroht.

Nur mit Israel im Rücken wird aus seit 2000 Jahre lang heimatlosen, unterdrückten und ausgegrenzten Juden ein freier Mensch.

Nicht zuletzt seziert Améry im Text »Grenzen der Solidarität - Die Diaspora - Juden und Israel« aus dem Jahr 1977 sein eigenes Verhältnis als Jude - ohne je religiös jüdisch gewesen zu sein - zum Staat Israel. Er stellt all die unangenehmen Fragen, wie und ob man als Jude einen Staat unterstützen und verteidigen kann, dessen Regierung und ihr tagespolitisches Handeln zuweilen offenbar gegen alle Prinzipien verstoßen, die man sich als Humanist und Demokrat setzt.

Améry gibt die entsprechenden Antworten. Sie gelten noch heute: Kein Staat auf der Welt wurde gegründet, ohne dass dabei Unrecht geschehen wäre. Die meisten Israelis, auch die, die in den Krieg ziehen, wollen Frieden. Keine Gesellschaft auf der Welt ist frei von Gewalt, Extremismus und Hass, so auch die Israelis. Aber kein Land und kein Volk auf der Welt wurde und wird derart in seiner Existenz bedroht wie Israel. Keinem Land wird derart mit Auslöschung gedroht, wie dem Staat Israel und in direkter Folge damit auch dem jüdischen Volk.

Es steht über allem das ewige Mantra: Israel ist für Juden die einzige und unersetzliche Lebensversicherung. Nur mit Israel im Rücken wird aus dem 2000 Jahre lang heimatlosen, unterdrückten und ausgegrenzten Juden ein freier Mensch.

Améry skizziert eindrücklich, weshalb jener, der Israel nicht unterstützt, wer das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, wer kaltschnäuzig den Antizionismus propagiert, egal aus welchem politischen oder kulturellen Lager heraus, kein Freund der Juden sein kann, oder um es eindeutiger zu sagen: ein Antisemit sein muss.

Man denke dazu nur eine Minute darüber nach, was mit den fast sieben Millionen Juden in Israel passieren würde, wenn man das heutige Staatsgebiet seinen muslimischen Nachbarn überließe. Das Massaker vom 7. Oktober 2023 gibt einem eine Idee davon.

Seit sechzig Jahren tobt der antisemitische Mob

Man könnte sagen, Jean Améry hat all die Probleme und Gefahren für Juden von heute und das Land Israel prophetisch vorhergesagt. Doch es ist schlimmer, denn er hat schlicht beobachtet und analysiert, was vor über fünfzig Jahren die Sachlage war. Und so kommt man bei der Lektüre seiner Texte zu der erschreckenden Einsicht: Der globale antisemitische, antiisraelische linke, rechte und muslimische Mob tobt seit nun mehr fast sechzig Jahren.

Seine Vorzeichen sind und waren seit der Gründung des Staates Israel von Anfang an dieselben, lediglich die Intensität nahm stetig zu. Und kann man ihn nicht stoppen, so steht an seinem Ende der nächste Genozid an den Juden. Es ist nicht der alte Antisemitismus der Nazis, es ist der Antisemitismus von heute. Was einen wiederum zu der ernüchternden Erkenntnis bringt, dass sechzig Jahre lang niemand hinsehen oder gar einschreiten wollte, und noch immer niemand einschreiten will, wenn Juden weltweit wieder in ihrer schlichten Existenz bedroht werden.

Jean Améry:»Der neue Antisemitismus«, 128 Seiten, 18 Euro, Cotta-Verlag

Medien

»Besonders perfide«

Israels Botschafter wirft ARD-Korrespondentin Sophie von der Tann Aktivismus vor. Die Hintergründe

 18.07.2025

London

Kneecap und Massive Attack wollen andere israelfeindliche Bands unterstützen

Einige der Initiatoren einer neuen Initiative verherrlichten den palästinensischen und libanesischen Terror auf der Bühne. Andere verglichen das Vorgehen Israels gegen die Hamas mit dem Holocaust

von Imanuel Marcus  18.07.2025

Darmstadt

Literaturpreise für Dan Diner und Ilma Rakusa

Diner habe die Geschichte des Judentums immer wieder als »Seismograph der Moderne« verstanden, begründete die Jury die Wahl

 18.07.2025

Nachruf

Nie erschöpfter, unerschöpflicher Herrscher des Theaters

Claus Peymann prägte das Theater im deutschen Sprachraum wie nur wenige andere. Nun ist er in Berlin gestorben. Erinnerungen an einen Giganten der Kulturszene

von Christian Rakow  18.07.2025

Kulturpolitik

Weimer sieht autoritäre Tendenzen im Kulturbetrieb

Attacken auf das weltberühmte Bauhaus und steigende Judenfeindlichkeit: Nach Einschätzung von Kulturstaatsminister Weimer steht der Kulturbetrieb zunehmend unter Druck

von Katrin Gänsler  18.07.2025

Tournee

Bob Dylan auf drei deutschen Bühnen

Das Publikum muss sich bei den Vorstellungen der lebenden Legende auf ein Handyverbot einstellen

 18.07.2025

Marbach

Israelische Soziologin Eva Illouz hält Schillerrede

Illouz widme sich dem Einfluss wirtschaftlichen Denkens und Handelns und greife damit Widersprüche kulturgeschichtlich auf, hieß es

 17.07.2025

Musik

1975: Das Jahr großer Alben jüdischer Musiker

Vor 50 Jahren erschienen zahlreiche tolle Schallplatten. Viele der Interpreten waren Juden. Um welche Aufnahmen geht es?

von Imanuel Marcus  17.07.2025

Interview

»Eine Heldin wider Willen«

Maya Lasker-Wallfisch über den 100. Geburtstag ihrer Mutter Anita Lasker-Wallfisch, die als Cellistin das KZ Auschwitz überlebte, eine schwierige Beziehung und die Zukunft der Erinnerung

von Ayala Goldmann  17.07.2025 Aktualisiert